Eine Winterreise in den Osten Europas: Ruth Beckermann sucht für sich und andere „Kinder der Überlebenden“, für die zweite Generation der österreichischen Juden nach der Shoah, eine Antwort auf die Frage "Wer sind wir?".

Sie fährt in die Bukowina, jene einstmals blühende Landschaft zwischen Rumänien und der Ukraine, die in Czernowitz ihr geistiges Zentrum hatte. Sie fährt nach Osijek an der Drau, wo für eine amerikanische Filmproduktion das Konzentrationslager Theresienstadt nachgebaut wurde und eine Busladung jüdischer Wiener als Komparsen an die Stelle der realen Opfer des Nationalsozialismus treten. Es sind die späten Achtzigerjahre, noch sind die kommunistischen Potentaten hinter dem "Eisernen Vorhang" nicht überwunden, noch sind die Juden in Osteuropa auch ein Teil der Verhandlungsmasse zwischen den Machtblöcken. In Rumänien zeigt das Fernsehen in erster Linie den Conducatore Ceauºescu. Wenn die Juden ein Fest feiern, kommt auch der Pope – ein spätes Zeichen für die lebendige Ökumene der Kulturen, die es in dieser Gegend einstmals gab.

Ruth Beckermann sammelt Eindrücke von einem jüdischen Leben auf dem Sprung: Viele Gemeindemitglieder tragen sich mit dem Gedanken an Ausreise, sie wollen nach Israel (wie auch die Filmemacherin selbst, die nach Die papierene Brücke ihre "jüdische Trilogie", begonnen 1983 mit Wien retour, 1990 mit einer Reise Nach Jerusalem komplettierte). Ruth Beckermann kennt aus ihrer eigenen Familiengeschichte beide Möglichkeiten – in Europa bleiben oder nach Israel gehen: Ihr Vater kam 1947 aus Rumänien nach Wien und blieb in der Stadt. Ihre Mutter überlebte den Krieg in Israel, kam nach dem Krieg nach Wien und blieb nur ihrem Mann zuliebe. Die Fahrt in den Osten ist der Umweg, auf dem Ruth Beckermann ihre eigenen Eltern erreicht: Sie treten schließlich auch selbst vor die Kamera, das Fotoalbum der Familie dokumentiert ein Fortleben des europäischen Judentums über die Shoah hinaus. Die papierene Brücke dieses Films führt die Filmemacherin zu sich selbst zurück: in einer Fotografie aus Kindertagen.

Am Ende wird sie in der Gegenwart wieder von der Geschichte der Täter eingeholt: Während Ruth Beckermann an dem Film arbeitet, erfährt Österreich von der Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims, der sich gerade für das Amt des Bundespräsidenten bewirbt. Die „Affäre Waldheim“ stürzt das ganze Land in eine Kontroverse über das Verhältnis zur eigenen Geschichte. Ruth Beckermann filmt auf dem Stephansplatz die hitzigen Diskussionen der Passanten: „Wer beherrscht denn die Welt immer noch?“ Wer darauf eine Antwort weiß, ist auch blind für die papierenen Brücken, die über die Abgründe des 20. Jahrhunderts ausgespannt sind.

Bert Rebhandl lebt als freier Autor und Filmkritiker in Berlin und schreibt regelmäßig für den Standard und die „FAZ“. Zuletzt erschien von ihm der Sammelband „Western. Genre und Geschichte“ bei Zsolnay.