Pianist Leif Ove Andsnes: "Es ist ein absoluter Luxus, dass es in Norwegen so viel Stille gibt."

Foto: EMI
Eine Plauder-Begegnung mit dem international gefragten wie regional engagierten norwegischen Pianisten.
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Schon der Blick auf die Küste des westlichen Norwegen während des Landeanflugs ist überwältigend: Verstreute Felsbrocken und dann allmählich größer werdende Inseln ragen aus dem Meer hervor, sanfte Hügellandschaften konkurrieren mit zerklüfteten Gesteinsmassen, bevor am Horizont das Hochgebirge mit seinen schon recht weit unten ansetzenden Gletschern erscheint. Auch an Regentagen durchdringen gleißende Lichtspiele den Nebel über dem Meer, während Wasserfälle in die von Klippen umschlossenen Fjorde rauschen.

Bei solchen Naturschauspielen liegt es selbstverständlich nahe, eine Verbindung zwischen Land und Leuten zu suchen, also auch Auswirkungen von Geografie und Klima auf Charaktere und künstlerische Hervorbringungen zu vermuten. Nahrung erhalten solche Spekulationen, wenn sie noch von werbewirksamen Bildern unterstützt werden, wenn verkaufsförderndes Kalkül auf Klischees zurückgreift.

Nun war es dem Pianisten Leif Ove Andsnes sicher bewusst, dass er sich auf ein Klischee einließ, als er einen Film für das Norwegische Fernsehen drehte, in dem er mit einem Flügel mitten in den Bergen posierte - einen Film, in dem er den Spuren von Edvard Grieg quer durch halb Europa folgte, dessen 100. Todestag man in der Stadt Bergen beging. Die Landschaft selbst, in der man aufwächst, wächst einem freilich ans Herz - doch ob das einzigartige Licht in Norwegen Einfluss auf die Luzidität seines Spiels gehabt habe, kann Andsnes nicht so ohne weiteres beantworten:

Auf der Insel

"Das ist ein Gedanke, der mir gefällt. Es ist aber für mich schwer zu sagen, wo die Zusammenhänge liegen. Ich bin auf einer Insel im Westen des Landes aufgewachsen, wo das Meer wichtiger war als die Berge." Was aber am Land Norwegen für den Künstler größte Bedeutung hat, ist die Möglichkeit, sich zurückzuziehen: "Es ist ein absoluter Luxus, dass es hier so viel Stille gibt - das ist wichtig für mich als Musiker. Nach einer Saison, in der ich viel gereist bin, habe ich das Bedürfnis, dem Lärm der Städte zu entkommen."

Darin ist der Pianist, so empfindet er es selbst, wohl bis zu einem gewissen Grad Grieg ähnlich, der zwischen seinen Auslandsreisen stets das Bedürfnis nach Rückkehr in die heimatliche Bergwelt rund um Bergen hatte und der ganz in der Nähe von jenem Ort wohnte, wo Andsnes nun über ein Domizil verfügt, von dem wiederum nicht weit die spektakulären Filmszenen entstanden.

Was Griegs Musik betrifft, der Andsnes eine soeben neu erschienene EMI-CD (Ballade for Edvard Grieg) gewidmet hat, wurde das Klischee zwar oft strapaziert. Für den Pianisten ist dennoch etwas Wahres dran, wenn er auf die Kontraste, die etwa bei den "Lyrischen Stücken" auf engstem Raum erscheinen, verweist: "In Griegs Musik finden Sie oft schroffe Kontraste, wenn sich ganz plötzlich die Stimmung ändert. Das ist wie in der norwegischen Natur, wo Sie neben den Bergen sanfte Formen finden. Das formt sicher den Charakter." Seine Einschätzung des norwegischen Nationalkomponisten allerdings ist differenziert und stimmt nicht in den Chor jener ein, die Grieg in den Olymp verfrachten wollen: "Er ist sicher nicht eine so unerschöpfliche Welt wie Bach, Mozart oder Beethoven, aber er hat eine eigene Qualität, die schwer zu definieren ist. Seine Formen sind zwar ziemlich konservativ, er hat aber eine Direktheit des Ausdrucks, die ganz eigenartig ist und einen direkt und universell anspricht - wie manche von Schuberts Liedern oder Chopins Klaviermusik."

Genaue Analyse

Die Direktheit seiner Interpretationen, die in genauer Überlegung und Analyse wurzeln, sieht Andsnes indessen vor allem durch sein Formgefühl vermittelt: "Die Proportionen sind wichtig, die müssen immer zusammenpassen." Vielleicht sind es deshalb Kollegen wie Dinu Lipatti oder Arturo Benedetti Michelangeli, die er besonders schätzt, und die beide skrupulös an ihren Interpretationen feilten. Auch dafür nimmt sich Andsnes gerne Zeit, obwohl nach dem zweiten Preis beim Eurovisionswettbewerb 1988 seine Karriere recht schnell einsetzte, als der junge Musiker von Orchestern wie dem Edinburgh Symphony Orchestra und Mariss Jansons eingeladen wurde. Das war denn zuweilen fast zu viel:

"Ich war zuhause ein ganz normaler Student und zugleich ein internationaler Pianist. Diese Dinge langsam angehen, war nicht einfach, mit diesen zwei Leben zurande zu kommen. Auch dass ich immer allein gereist bin, war am Anfang schwierig." Inzwischen beweist der Künstler seine Vielseitigkeit längst äußerst routiniert. So tritt er zuweilen auch als Dirigent auf und ist Mitorganisator des Kammermusikfestivals in Risor: "Hier kann ich Dinge ausprobieren, Leute treffen - wunderbar. Mit Tenor Ian Bostridge habe ich hier zum ersten Mal zusammengearbeitet." (Daniel Ender aus Bergen, DER STANDARD/Printausgabe, 10.10.2007)