Radikaler Denker: Wilhelm Reich um 1940.

Foto: DER STANDARD/Eva Reich
Wien - Die Bilder, die man von Wilhelm Reich (1897-1957) im Kopf hat, sind unscharf und zeigen einen extremen Denker: Einer, der Psychoanalyse und Marxismus zusammendachte und der Ansicht, dass man sexuelle Energie stofflich nachweisen könnte. Irgendwie brachte er diesen stofflichen Nachweis - die Entdeckung des so genannten "Orgons" - dann auch gleich mit dem Krebs in Verbindung, der als Folge dieses nicht mehr fließenden Orgons gedeutet wurde. Mit anderen Worten: Üblicherweise weiß man nichts über Wilhelm Reich; zumindest nichts Substanzielles.

Umso spannender ist es deshalb, wenn er wieder einmal in den Mittelpunkt gerückt wird, wie am vergangenen Wochenende im Rahmen der Wiener Sigmund-Freud-Vorlesungen, die sich einen Tag lang Wilhelm Reich und dessen Verhältnis zu Freud widmeten. Am spannendsten war dabei die Person Reich selbst, dessen Leben Andrea Bronner im Rahmen der Freud-Vorlesungen nachskizzierte:

1897 geboren, gehörte Reich bereits zur zweiten Generation von Analytikern. Er studierte nach dem Ersten Weltkrieg Medizin in Wien, kam so mit dem Freud-Kreis in Kontakt und spielte in diesem bald eine gewichtige Rolle: Schon 1924 leitete er das selbst initiierte "technische Seminar", ein Jahr später erschien sein Buch Der triebhafte Charakter, wieder zwei Jahre darauf Die Funktion des Orgasmus; ein Buch, mit dem er mehr als nur Aufsehen erregte.

Interesse für Marx

In etwa zeitgleich begann die Auseinandersetzung mit Marx, Lenin und der Politik, in deren Folgen die privaten wie beruflichen Beziehungen immer mehr zu zerbröckeln begannen. Bedingt auch durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten lebte Reich nun ein Leben, das durch Flucht, Emigration, Zerwürfnisse und später in den USA sogar durch Gefängnisaufenthalte geprägt war, in dem aber weiterhin auch Liebesbeziehungen, Theoriebildung und Experimente Platz hatten.

Natürlich bietet ein solches Leben genug Anlass, den Freak in Wilhelm Reich herauszustreichen. Was allerdings meist auf Kosten seiner Ideen und seiner Arbeit geht - bedauerlicherweise, ist letztere doch mehr als nur attraktiv.

Beispielsweise wurde von Reich die Freudsche Konzeption des Widerstands drastisch ausgeweitet: Freud hatte ja festgestellt, dass im Zuge des analytischen Aufdeckungsprozesses diesem von Seiten des Analysanden immer wieder Widerstand entgegen gebracht wird.

Reich nun begann überhaupt den Gesamtcharakter der Patienten als Widerstand zu deuten, wie Christine Diercks im Rahmen der Freud-Vorlesungen ausführte. Ja, mehr noch: Der (Alltags-)Charakter war seiner Ansicht nach in seiner Gesamtheit eine Abwehrreaktion ("Charakterpanzer"), der das psychische Gleichgewicht schützt, das von frei flottierenden Ängsten genauso bedroht ist wie von sexueller Energie. Aufstauung und Entlastung von dieser Aufstauung ist aus diesem Grund für Reich das Grundprinzip des neurotischen Charakters.

Zeitgemäßes inkludiert aber auch Reichs Bild des Orgasmus: Ein neurotischer Charakter entsteht laut Reich eben dort, wo sexuelle Energie gewissermaßen aufgestaut wird. Wo die lustvolle Entladung der Libido ausbleibt, sich kein befriedigender Orgasmus einstellt, beginnen sich Pathologien zu entwickeln, weshalb dem Orgasmus im - sexuellen - Leben eine fundamentale Bedeutung zukommt. Er dient dem Spannungsabbau, dem Abbau sexueller Energie, die Reich anders als Freud schließlich sogar mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu suchen begann.

Orgiastische Entladung

Verbunden mit dieser Funktions-Deutung des Orgasmus ist nun bei Reich aber auch die Überzeugung, dass Moral in einer Gesellschaft nur dann notwendig ist, wenn gleichsam die orgastische Entladung nicht funktioniert. Wo hingegen der Orgasmus gelingt, kann an die Stelle von Moral eine "sexualökonomische Selbststeuerung" treten, die für ein ausgeglichenes, selbstbestimmtes Leben sorgt.

Das klingt überraschend nach der "Ästhetik der Existenz", die Michel Foucault in seinem Spätwerk propagiert hat und die sich heute in all den boomenden Konzepten vom gelingenden und glücklichen Leben fortschreibt. Und mit der als Brille sich Reich, dessen Todestag sich am 3. November zum 50. Mal jährt, weniger als Freak denn als Visionär und Klassiker humanistischen Lebens erweist. (Christian Eigner/DER STANDARD, Printausgabe, 10.10.2008)