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Von der Nobelpreisjury als "Epikerin der weiblichen Erfahrung" bezeichnet: Doris Lessing im April letzten Jahres in ihrem Wohnzimmer im Norden Londons.

Foto: AP/Cleaver
... die sich auch als Zivilisationskritikerin und als Stimme für die Gleichberechtigung der Frau profiliert hat.


Stockholm – Der weltweit renommierteste Literaturpreis geht in diesem Jahr an die britische Schriftstellerin Doris Lessing. Das gab die Schwedische Akademie der Wissenschaften am Donnerstag in Stockholm bekannt. Die Verleihung des mit 1,1 Millionen Euro dotierten Preises wird im Dezember stattfinden. Lessing wurde 1919 im persischen Kermanshah als Tochter eines britischen Offiziers und einer Krankenschwester geboren. 1924 zog die Familie ins damalige Südrhodesien und erlebte dort die letzte Phase des britischen Kolonialreichs in Afrika. Ein junge Frau, die sich mit Vorliebe Autoritäten widersetzte, heiratete Lessing früh. 1949 übersiedelte sie nach zwei gescheiterten Ehen nach England.

Literarisch debütierte sie 1950 mit dem Roman "Afrikanische Tragödie" (im Original: "The Grass Is Singing"), der in Südrhodesien spielt. Die Geschichte über eine in ihrer Ehe unglückliche Farmersfrau, die von ihrem schwarzen Diener ermordet wird, wird rückblickend aufgerollt und ist eine psychologische Studie über Ausbeutung und Rassismus. Auch den fünfbändigen Romanzyklus "Kinder der Gewalt" ("Children Of Violence", 1952 – 1969) siedelte die Autorin noch in der kolonialistischen Gesellschaft Afrikas an. Das große Thema sind hier Kriege als Einschnitte für Generationen, und wie Einzelne und Kollektive unter dem Druck von Gewalt handeln.

Fantastisch-utopisch

Die autobiografisch gefärbte Hauptfigur der Martha Quest ist kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren, durchlebt nach einer katastrophalen Ehe den zweiten und stirbt unmittelbar vor dem Ausbruch eines imaginären dritten vor der Jahrtausendwende. Es mischten sich erstmals phantastisch-utopische Züge in Lessings Schreiben, die später in dem zweiten großen Zyklus "Canopus im Argos: Archive" ("Canopus In Argos: Archives", 1979 – 1983) noch in den Mittelpunkt rücken sollten.

Während sie an Kinder der Gewalt arbeitete, entstand auch der außerhalb des Zyklus stehende Roman "Das goldene Notizbuch" ("The Golden Notebook", 1962), der sich zu ihrem wirkungsmächtigsten Text entwickelte. In dem späteren Kultbuch der Frauenbewegung wird die komplizierte Identitätsfindung der Anna Wulf beschrieben. Wie auch Martha Quest weist sie einige Parallelen zu Lessing auf.

Die Heldin ist eine aus Südafrika stammende Schriftstellerin. Geschieden lebt sie in London mit ihrer Tochter und bewegt sich im Umfeld der kommunistischen Partei. In ihren Dreißigern macht die Frau eine fundamentale, alle Lebensbereiche umfassende Krise durch: Sie hat sich von ihren eigenen Texten ebenso wie vom Stalinismus gründlich entfremdet, während sie im Privaten darunter leidet, nicht mit ihren Emotionen umgehen zu können. Als Therapie schreibt sie in vier verschiedenfarbig eingebundene Notizbücher. Im schwarzen rekonstruiert sie die Zeit in Afrika, im roten verzeichnet sie politische Gedanken, im gelben literarische Skizzen, im blauen private Ereignisse. Schließlich realisiert sie, dass sie sich selbst als Ganzes akzeptieren muss. Am Ende genügt ihr ein einziges Notizbuch, das dem Roman den Titel gibt, und sie beginnt einen Roman mit dem Titel "Free Women" zu schreiben.

Furore machte "Das goldene Notizbuch", weil es die Situation der Frauen auf dem Weg zur Gleichberechtigung dokumentierte. Ob uns Lessings gerade eben bei Hoffmann und Campe, wo ihre Bücher auf Deutsch erscheinen, neu aufgelegter Roman heute noch viel zu sagen hat, darüber darf man geteilter Meinung sein. Damals empfand die Kritik ihn auch als stilistischen Durchbruch vom konventionell realistischen Erzählen zu einem komplexeren Stil.

Kosmische Gesetze

Als ihr wichtigstes Werk bezeichnet Lessing selbst das erwähnte "Canopus im Argos", eine engagierte Science-Fiction, die aus Sorge um den Planeten Erde entstanden ist. Desillusioniert von der Politik, wandte sich Lessing in den 1970er-Jahren dem Sufismus zu, studierte C. G. Jung und entwickelte in dem Romanzyklus eine Weltraumperspektive, von der aus die Erde ins Visier genommen wird. Teils satirisch, teils moralisierend, drehen sich die fünf Bücher um kosmische Gesetze, was für ein kurzlebiges Würstchen der Mensch im Vergleich dazu doch ist, und dass er sich der Erde gegenüber respektvoller verhalten solle.

Wie Lessing in späteren Romanen zeigte, in denen sie die gesellschaftlichen Themen ihrer frühen Arbeiten und die mystischen Tendenzen der mittleren Werke vermischte, bedeuteten ihre utopischen Bücher keine Flucht aus der Welt. Eher das Suchen und Graben nach einer besseren. In ihrem neuen Roman "Die Kluft" ("The Cleft") beschreibt sie eine mythische Gesellschaft, die anfangs nur aus Frauen besteht.

Die Stockholmer Jury kürte Doris Lessing als "die Epikerin der weiblichen Erfahrung, die mit Skeptizismus, Feuer und visionärer Kraft eine gespaltene Zivilisation einer genauen Überprüfung unterzogen hat".

Man könnte auch so sagen: Es handelt sich um eine seit vielen Jahren immer wieder als mögliche Gewinnerin gehandelte, nun sehr, sehr spät als bisher älteste Literaturnobelpreisträgerin überhaupt ausgezeichnete Autorin, die für ihre literarische Qualitäten und für ihr Engagement gewürdigt wird. Wobei am Ende vermutlich letzteres um ein Haar mehr den Ausschlag gegeben haben dürfte. (Sebastian Fasthuber / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.10.2007)