Wien - Als zu spät haben mehrere deutschsprachige Tageszeitungen am Freitag die Vergabe des Literatur-Nobelpreises an Doris Lessing bezeichnet. Ein Überblick über die Pressestimmen, in denen auch Kritik an Schwächen im Werk Lessings laut wird:

Frankfurter Allgemeine Zeitung

"In ihrem üppigen Werk hat Doris Lessing mit intellektueller Schärfe und nötigem Sarkasmus eine reiche Parallelwelt zum Aktualitätenwahn der Gegenwart geschaffen", würdigt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" die Autorin. "Lessing ist die Botschafterin der Einsamkeit, und sie porträtiert das Leben in Gedanken als eine Alternative, die mit den Jahren immer plausibler wird. Ihr großes Herz und ihr wacher Verstand führen vor, wie man zugleich über afghanische Flüchtlinge schreiben und sich mit der Sensibilität einer Jane Austen um die Schicksale der weiblichen Seele kümmern kann." Ihr Werk habe "wie wenige andere die atemberaubenden Freiheiten und seelischen Verstümmelungen des zwanzigsten Jahrhunderts erkundet."

Neue Zürcher Zeitung

Eine "querköpfige Quotenfrau" habe die Nobelpreis-Akademie ausgesucht, attestiert die "Neue Zürcher Zeitung". Auch wenn Weltregionen wie der arabische Raum oder Gattungen wie die Lyrik bei den Literatur-Nobelpreisen weiter unterrepräsentiert seien -"Immerhin: Dem Ruf nach einer weiblichen Preisträgerin - der elften in der Geschichte der 1901 gestifteten Auszeichnung - wurde Folge geleistet". Obwohl man Schwächen im Werk konstatieren könne, wären diese "jedoch einerseits mit einem Lebenswerk von imposantem Umfang zu verrechnen - und anderseits mit einem offensichtlich ungebrochenen Willen zur literarischen Teilhabe, der sich den Beeinträchtigungen des Alters ebenso trotzig entgegenstellt wie der zu wenig Hoffnungen Anlass gebenden Weltlage."

Süddeutsche

In der "Süddeutschen Zeitung" heißt es: Die Auszeichnung Lessings "ruft noch einmal ein Werk in Erinnerung, das seinen Stoff aus den sozialen und politischen Aufbruchsbewegungen des 20. Jahrhunderts bezog. Eine große Stilistin würdigt sie nicht, ebensowenig eine Autorin, die der Kunst des Erzählens neue Formen erschloss." Die Akademie habe "die symbolische Bedeutung einer Autorin in dem Moment ratifiziert, in dem ihr Werk bereits zu verblassen beginnt." Die "SZ" resümiert: "Nach rein literarischen Gesichtspunkten kann diese Wahl nicht erfolgt sein."

TAZ

"Irgendwie ist es eine schöne Nachricht", findet die "taz". "Eine freundliche, eine gute Entscheidung. Und das nicht nur für viele Frauen, die älter als 45 sind."

Die Presse

Die "Die Presse" sieht eine "späte Ehre für die unerschöpfliche englische Romanschriftstellerin". Der Nobelpreis sei "fast schon wieder überraschend". Als "große Nobelpreis-Überraschung" sieht die Wahl die Tageszeitung "Österreich". "Erlebt hat Doris Lessing wahrlich genug", heißt es im "Kurier". "Immer war sie bemüht, zum eigenen Vergnügen zu schreiben. Aber es ging ihr ums Leben."

"Wie bei keiner anderen Autorin von Weltrang liegen bei Doris Lessing Albernes und Tiefgründiges, Scharfsinniges und Banales, Aufrüttelndes und Lähmendes eng beieinander", heißt es in den "Salzburger Nachrichten". Lessing "war einmal eine einzigartige Schriftstellerin", "aber man ist geneigt, von ihrem Werk in der Vergangenheitsform zu reden. Lange ist ihr nichts Überzeugendes mehr gelungen". Da passe die Zuerkennung des Nobelpreises "ins Bild: Häufig war es in den letzten Jahren der Fall, dass man bei den Entscheidungen aus Stockholm den Eindruck einer tief sitzenden Gegenwartsscheu zu verspüren meinte." (APA)