Orte, die die Welt bedeuten: Neben den berühmten und altehrwürdigen Bibliotheksräumlichkeiten hat die deutsche Fotokünstlerin Candida Höfer auch die kargen Ecken und engen Gänge mit leeren Bücherregalen fotografiert (wie links in der Bibliothèque nationale de France).

Foto: Candida Höfer, "Bibliotheken", 2005, Schirmer/Mosel
Frankfurter Buchmesse ist’s, und alle reden vom Lesen. Wenn ich Sie, verehrter Leser, hier nicht mit dem Lesen konfrontiere, sondern mit dem Nichtlesen (in einer Zeitung für Leser, paradoxerweise), so ist dies nicht zwanghafter Originalität geschuldet, sondern vielmehr der Einsicht in die tiefe, fast schon dialektisch zu nennende Verbundenheit des Lesens mit seinem Gegenteil, dem Nichtlesen. Lesen und Nichtlesen sind so innig aufeinander bezogen wie Sein und Nichtsein, Rauchen und Nichtrauchen. Diese Verbundenheit zeigt sich zum Beispiel daran, dass es gut möglich ist, einen Artikel über das Lesen zu lesen, aber ebenso gut kann ihn natürlich auch nicht lesen.

Genauso wenig ist es ausgeschlossen, einen Artikel über das Nichtlesen zu lesen, oder aber einen Artikel über das Nichtlesen nicht zu lesen. Dies hier ist, wie erwähnt, ein Artikel über das Nichtlesen, und weil er dem Nichtlesen, seinem negativem Charakter zum Trotz, die eine oder andere positive Seite abgewinnt, könnten Sie sich nach der Lektüre womöglich in Ihrer Leserehre gekränkt fühlen. Vielleicht sollten Sie ihn daher besser nicht lesen. Wenn Sie ihn aber lesen, dann sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.

Inklusive der Taschenbücher sind es etwa 90.000 Buchneuerscheinungen, die heuer in Frankfurt präsentiert werden. Geht man davon aus, dass das Frankfurter Durchschnittsbuch 250 Seiten stark ist, dann beläuft sich die Anzahl der von den Verlagen publizierten Buchseiten auf exakt 22,500.000. Wollte man einen jener alten Visualisierungstricks anwenden, mit denen man unvorstellbar große Zahlen anschaulich machen kann, so ergäben diese Seiten, aneinanderlegt, gewiss eine Strecke von der Standard-Redaktion bis zum Mars, wenn nicht gar bis zur Venus. Das ist nicht wenig. Außerdem ist es – Ars longa, vita brevis! – eine grausame Veranschaulichung der Diskrepanz zwischen der armseligen Aufnahmekapazität des Individuums und dem Reichtum der Welt, der Bücherwelt. Kein Mensch kann 90.000 Bücher lesen, und selbst wenn sich ein Leser mit einem verrückten Drang nach dem großen Ganzen daran machte, sich durch den kompletten Frankfurter Stapel hindurchzulesen, so würde er nach einem Jahr zuverlässig von einem erneuten Frankfurter Bücherschock ereilt. In Vergleich zu einem solchen Leser wäre selbst Sisyphus ein zielstrebiger Outperformer.

Rekapitulierend gesprochen ist die literarische Marktlage also durchaus so, dass sie dem Kulturmenschen, der ja die Frankfurter Buchmesse nicht einfach links liegenlassen kann, mehr oder minder explizite Akte des Nichtlesens abnötigt, welche sich, je nach Laune und Temperament, nach außen hin in unterschiedlichen Graden der Entschiedenheit vertreten lassen ("Das lese ich nicht", "Nie und nimmer lese ich das", "Ehe ich das lese, lasse ich mich vierteilen" usw.). Schüchternen Nichtlesern aber, die vor dem offensiven Bekenntnis zum Nichtlesen (oder zum Nichtgelesenhaben) zurückscheuen, bleibt immer noch die Ausflucht, so zu tun, als hätten sie gelesen, was sie nicht gelesen haben.

In einem aufsehenerregenden Ratgeber hat der französische Literaturwissenschafter Pierre Bayard unlängst Tipps publiziert, wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat (>>> Rezension). Bayard geht so weit, das ungelesene Buch nebst dem finanziellen Einkommen und der Ausgestaltung des ehelichen Sexuallebens das dritte große Tabu der bürgerlichen Gesellschaft zu nennen. Und offenkundig hat er, dies scheint der Erfolg seines Buches zu beweisen, eine weitverbreitete, aber tiefverdrängte Klemme geortet: Einerseits leben die meisten Menschen unter Umständen, die es ihnen nicht erlauben, sich in entspannter Muße mit den Schätzen der Weltliteratur vertraut zu machen. Andererseits erfordert es der zivilisierte gesellschaftliche Umgang (vor allem in Literaturländern wie Frankreich), dass man seinen Homer, seinen Rabelais, seinen Spinoza, seinen Shakespeare, seinen Racine, seinen Voltaire, seinen Balzac, seinen Flaubert, seinen Zola, seinen Claudel, seinen Foucault und seinen Houellebecq draufhat.

Somit findet sich der Bürger, vor allem der Bildungsbürger, ständig in der Situation wieder, davon sprechen zu müssen, worüber er nicht schweigen kann, was er aber auch nicht gelesen hat. Tröstlicherweise versichert uns Bayard, dass die Konversation über Bücher auch ohne Kenntnis des Konversationsgegenstandes gut funktionieren kann, wenn man nur ein paar rudimentäre Ideen vom Inhalt der Bücher im Kopf hat und im Gespräch ein passendes Abstraktionsniveau findet, welches den gefahrlosen Austausch von Allgemeinplätzen ermöglicht. Ein idealer Kompromiss zwischen dem Lesen und dem Nichtlesen ist möglicherweise das so genannte Querlesen, welches es vor allem Rezensenten erlaubt, ihr persönliches Desinteresse an einem Buch mit der professionellen Verpflichtung, das Buch gelesen zu haben, zur Deckung zu bringen. Das eigentliche Nichtlesen kommt hingegen mit drei unterschiedlichen Geschmacksrichtungen einher.

Die erste Variante des Nichtlesens ist in einer Aversion gegen die Tätigkeit des Lesens an sich begründet. Sofern sie belesen genug sind, wird es Anhängern dieser Art des Nichtlesens nicht schwerfallen, sich auf literarische Argumente gegen das Lesen zu berufen. Einige Beispiele: Das durch die extensive Lektüre von Ritterromanen hervorgerufene Delirium des Don Quichotte steht wie ein großes Antilese-Menetekel an der Schwelle zur Neuzeit. Die Bestürzung des Cervantes über den Einbruch des Bestsellerwesens ins Alltagsleben ist verständlich: Wo der Mensch des Mittelalters seine Freizeit damit verbrachte, Wein zu trinken oder gemütlich zu kopulieren, da sieht sich der Mensch der Gutenberg-Ära mit einem Mal dem Lesezwang und dem Zwang zum Smalltalk über das Lesen ausgesetzt ("Haben Sie schon die Lutherbibel gelesen?"). Schopenhauer wettert in den "Parerga und Paralipomena" ingrimmig und seitenlang gegen das Lesen, nennt es "ein bloßes Surrogat des eigenen Denkens", bei dem man "seine Gedanken von einem anderen am Gängelbande führen lässt." Henry Miller, drittes Beispiel, hatte zwar nichts Generelles gegen das Lesen, rät aber in seinem Buch "Die Kunst des Lesens" energisch dazu, nur wenig zu lesen, in homöopathischen Dosen gewissermaßen.

Die zweite Variante des Nichtlesens möchte ich das selektive Nichtlesen nennen. Anders als das generalisierte Nichtlesen definiert es sich über einen konkreten Autor (ein konkretes Buch), den (oder das) der Leser, aus welchen Gründen immer, nicht lesen kann, nicht lesen mag, nicht lesen will. Das Interessante an dieser Art des Nichtlesens ist, meinem Empfinden nach, dass es sich, je nachdem, was man nicht liest, durchaus unterschiedlich anfühlt. Ich zum Beispiel habe Finnegans Wake ebenso wenig gelesen wie den neuen Roman von Robert Schneider. Als Finnegans-Wake-Nichtleser fühle ich mich aber unbehaglicher denn als Nichtleser der Offenbarung.

Die dritte Art des Nichtlesens schließlich speist sich aus einem Ekel vor dem Medium Buch, welches immer noch das vorherrschende Trägermedium für Lesbares ist. Mit Büchern muss man können. Die Chemie muss stimmen, sonst ergeht es einem wie dem Popduo Luttenberger/Klug, das vor kurzem in einem Frühstücksgespräch mit dem Kurier in erfrischender Klarheit dargelegt hat, was manche Vertreterinnen einer durch das jahrelange Nichtlesetraining der zeitgenössischen Bildmedien geschulten Generation von Büchern halten: "Welche Bücher liest die ausgebildete HipHop- und Showdancerin? Chrissi verzieht das Gesicht. ,Bücher, bä, na! Ich hab’ zwar jetzt eines angefangen, aber es kostet mich Überwindung, da reinzuschauen.‘ Freundin und Kollegin Michelle nickt zustimmend. Ein Blick in ein paar Zeitschriften – das reicht."

Wenn Sie, verehrter Leser, meine Warnung in den Wind geschlagen und bis hierher gelesen haben (und das haben Sie, sonst würden Sie das nicht lesen), besteht der Verdacht, dass Sie es womöglich gar nicht so sehr mit dem Nichtlesen halten, sondern zur Gattung der echten Leser gehören. Grämen Sie sich nicht. Auch gegen das Nichtlesen lässt sich manches ins Treffen führen. Ich schließe mit einer der schönsten mir bekannten Warnungen vor dem Nichtlesen: Pablo Neruda hat sie geschrieben, und er prophezeit, dass jeder, der die Erzählungen von Julio Cortázar nicht liest, hässliche gesundheitliche Konsequenzen zu gewärtigen hat: "Wer diese Erzählungen nicht liest, ist verloren. Sie nicht zu lesen ist wie eine schleichende Krankheit, die mit der Zeit schreckliche Folgen haben kann. Ähnlich wie jemand, der nie einen Pfirsich gekostet hat. Er würde langsam melancholisch werden und immer blasser, vielleicht würden ihm nach und nach die Haare ausfallen." Solange es solch gute Gründe gibt, auch zum Nichtlesen "Bä, na!" zu sagen, ist für die Leser Hopfen und Malz nicht verloren. (Christoph Winder, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 13.10/14.10.2007)

Foto: aus dem Bildband Candida Höfer Bibliotheken, Schirmer+Mosel Verlag