Will das Recht auf Büchereien sichern: Gerald Leitner, Geschäftsführer des Büchereiverbandes und Präsident der Eblida, des Europäischen Bibliotheksverbands.

Foto: Regine Hendrich
Wien - Zufall heißt bis heute jene Macht, die wesentlich darüber bestimmt, ob ein Kind in Österreich zum Leser werden darf. Und das in doppelter Hinsicht: Zufall bestimmt nicht nur, ob das Kind dem Schicksal entgeht, in einen jener zwanzig Prozent österreichischer Haushalte geboren zu werden, die weniger als 25 Bücher in ihren Regalen beherbergen. Ob es also Eltern hat, die Leser sind und die Liebe zum gedruckten Buchstaben in ihm fördern. Zufall bestimmt auch, ob eine wohlausgestattete Bibliothek in seiner Nähe liegt.

Im Unterschied zu den meisten Staaten der EU verzichtet Österreich nämlich bis heute auf ein eigenes Bibliotheksgesetz, das verbindliche Standards für Finanzierung, Ausstattung, Öffnungszeiten etc. regelt.

Nur so ist es möglich, dass etwa Klagenfurt, immerhin Hauptstadt des Bundeslandes Kärnten, bis heute weder von Land noch Stadt eine öffentliche Bibliothek finanziert erhielt. Einzig die Arbeiterkammer füllt die Lücke.

Über neunzig Prozent aller Bibliothekare in Österreich arbeiten bis heute ehrenamtlich, also unbezahlt. In teilweise winzigen, schlecht ausgestatteten Büchereien.

Bibliotheken aber zählen neben den Schulen zu den wesentlichen Säulen eines öffentlichen Bildungssystems. Sie erlauben gerade Schülern aus ärmeren sozialen Schichten den kostenlosen Zugang zu Information. Kein Zufall also, dass Österreichs Schüler bei der Pisa-Studie im Jahr 2003 in puncto Lesekompetenz auf beschämendem 19. Platz landeten - ex aequo mit Deutschland, einem weiteren Staat ohne Bibliotheksgesetz.

Erschreckende Zahlen: Zwanzig Prozent aller Schüler in Österreich erreichten eine Lesefähigkeit von "Level 1", also "kaum lesefertig" oder darunter. Ihnen ist es kaum möglich, einen schriftlichen Text zu entziffern. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Die SPÖ hatte 2006, noch in der Opposition, eine Bibliotheksinitiative beschlossen. Nun ist sie aufgefordert, diese umzusetzen.

Gerald Leitner, Geschäftsführer des Büchereiverbandes Österreichs und Präsident der Eblida, der Vereinigung des Europäischen Bibliotheksverbands, kämpft seit Jahren für ein Bibliotheksgesetz in Österreich. Er ist einer der Mitorganisatoren der Aktion "Österreich liest. Treffpunkt Bibliothek", mit der in dieser Woche Österreichs Büchereien die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchen.

STANDARD: Einige schöne Beispiele der wachsenden Bibliothekskultur in Österreich gibt es: Die Wiener Hauptbücherei am Gürtel, der Wissensturm in Linz, die eben erfolgte Grundsteinlegung für eine große Stadtbibliothek in Salzburg ...

Leitner: Es gibt in Österreich sehr gute Einzelanstrengungen. Aber es gibt keine Strategie für das ganze Land. So obliegt alles der Zufälligkeit und der Generosität des einzelnen Trägers - oder seiner Einstellung zu Kultur und zu Bildung. Ist diese bei einem Bürgermeister oder einem Stadtrat positiv, wird eine Bibliothek finanziert. Bei 2200 anderen Stadträten ist das leider nicht der Fall.

Ein Kind darf aber durch den Ort seiner Geburt nicht benachteiligt sein. Man muss sich nur vorstellen, wie es wäre, wenn die Entscheidung, ob es in einer Gemeinde eine Schule gibt oder nicht, von der Einstellung des Bürgermeisters abhinge. Wir haben zwar in Österreich eine differierende Qualität hinsichtlich der Schulen, aber ein gewisser Standard, der nicht unterschritten werden darf, ist gesichert. Das gewährleistet ein Gesetz. Und auch den freien Zugang und den Anspruch auf Unterricht.

STANDARD: Jedes Kind, jeder Einwohner Österreichs hat aber auch Anspruch auf eine Bibliothek, auf den freien Zugang zu kostenlosen Büchern. Dieses Bewusstsein scheint hierzulande noch nicht wirklich gefestigt.

Leitner: Im Gegensatz zu anderen Staaten der Europäischen Union. In den skandinavischen Staaten etwa sind 50 bis 80 Prozent der Bürger eingetragene Bibliotheksnutzer. Hier 14 Prozent. Und Großbritannien hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Bibliotheksgesetz. Zwar ist es der Regierung Thatcher dennoch gelungen, die öffentlichen Bibliotheken auszuhungern, sie teilweise zu privatisieren. Aber in den Folgejahren hat man in einem Sonderprojekt zusätzlich zum eigentlichen Budget für Bibliotheken umgerechnet 260 Millionen Euro investiert. Man hat die Bibliotheken mit neuen PCs ausgestattet, mit Zugang zum Internet, mit Arbeitsplätzen für selbstgestaltetes Lernen. Man hat die Bibliothekare trainiert. Man hat sogenannte Self-Learning-Center aus den Bibliotheken gemacht. Solche Programme zeugen von einer Idee, die die Bibliotheken als Instrumente in der Bildungslandschaft ernstnimmt, um die Gesellschaft weiterzubringen.

Wie gesagt, 260 Millionen Euro als Sonderinvestition zusätzlich zum Bibliotheken-Budget. Zum Vergleich: In Österreich gibt der Bund jährlich gerade einmal 1,6 Millionen Euro für öffentliche Bibliotheken aus.

STANDARD: Stichwort Integration. Gerade von den Kindern der Immigranten wird etwa die Hauptbücherei am Gürtel stark frequentiert.

Leitner: Die Bibliothek hat hier einen besonderen Stellenwert. Sie ist ein Ort der Information, darüber hinaus aber ein Ort des Vertrauens. Ein nicht-kommerzieller Treffpunkt. Ab einem gewissen Alter dürfen auch Mädchen, etwa aus muslimischen Familien, allein dort hingehen. Die Bibliothek wird auch zum Treffpunkt der Jugendlichen. Ein guter Rahmen für Kontakte. Und die Internet-Zugänge sind sehr interessant für sie.

STANDARD: Wie aber sind die nächsten Schritte auf dem Weg zum Bibliotheksgesetz?

Leitner: Eine Expertengruppe soll bis zum nächsten Jahr Vorschläge ausarbeiten. Ich wünsche mir die Einbeziehung internationaler Experten, die Orientierung an internationalen Standards. (Cornelia Niedermeier/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17. 10. 2007)