Aufnahme ins Gefängnis als ritualisiertes Verfahren: eine Einstellung aus Maria Ramos' grandiosem Dokumentarfilm "Juízo".

Foto: Viennale

Die brasilianische Richterin Luciana Fiala da Siqueira Carvalho hat eine leidenschaftliche Auffassung von ihrem Beruf. Tagtäglich sitzt sie jugendlichen Straftätern gegenüber, und immer aufs Neue versucht sie, bei einem Drogenhändler, einer Ladendiebin oder auch einem Mörder seines Vaters mehr als nur apathisches Achselzucken über das Urteil zu erreichen.

"Ich will dich hier nicht mehr sehen", lautet häufig der Satz zur Verabschiedung. Der Wunsch erfüllt sich aber kaum einmal so, wie er gemeint ist. Denn die Delinquenten tauchen vielfach unter, und wenn sie das nächste Mal erwischt werden, sind sie dann schon strafmündig und kommen vor ein anderes Gericht.

Die Instanz, aus deren Alltag Maria Ramos in Juízo berichtet, hat es hingegen strikt mit Tätern zu tun, die noch nicht volljährig sind. Fast immer stammen sie aus einer der Favelas von Rio de Janeiro. Sie werden in einer Schleuse des Gefängnisses ausgeladen und dann einer einheitlichen Prozedur unterzogen, die Maria Ramos minutiös dokumentiert: Zuerst gibt es eine Leibesvisitation, dann werden die weiten T-Shirt und Shorts ausgegeben, die verhindern sollen, dass jemand etwas verstecken kann; dann werden die Haare kurz geschoren, und die Zellen bezogen. Von dort kommen die jungen Leute irgendwann in das Zimmer, in dem Richterin Luciana wartet, in Gegenwart von Anklage und Verteidigung und einer Frau, die hinter einem Computer sitzt und Protokoll führt.

Die Form eines Protokolls hat auch der Film in vielerlei Hinsicht: Maria Ramos sieht einer Institution bei der Arbeit zu. Die Menschen, die auftreten, vertreten dabei nicht sich selbst, sondern das Gemeinwesen. Alle Sprechakte in Juízo sind öffentlich in dem Sinn, dass es darin immer um die Sache geht und persönliche Angelegenheiten keine Rolle spielen. Sie dringen aber natürlich in die Verfahren ein, weil die Motive für die kriminellen Handlungen immer auch privater Natur sind.

Vater = Gesetz

Am dringlichsten wird dies deutlich an dem Fall eines Jungen, der seinen schlafenden Vater mit mehreren Messerstichen ums Leben gebracht hat. Der Vierzehnjährige hat kein Unrechtsbewusstsein, für ihn hat der Vater, ein brutaler Schläger und Trinker, den Tod verdient. Die Richterin zeigt Verständnis für seine Haltung, ärgert sich aber über seine Reglosigkeit und weiß auch, dass es nicht um Empathie, sondern um das Gesetz geht. Die Anklägerin fügt ein gewichtig klingendes Argument hinzu: "Der Vater symbolisiert das Gesetz", der Junge hat also gegen eine rechtmäßige Autorität gehandelt.

Juízo gewinnt seine Qualität (wie schon der letzte Film von Maria Ramos: Justiça, Viennale 2004) daraus, dass das Kino als eigene Institution neben die demokratischen Instanzen tritt - in den Szenen aus den Gerichtsverhandlungen kann sich das Gemeinwesen beim Funktionieren und beim Scheitern zugleich zusehen. Denn einerseits wird mit jedem Urteil die Ordnung aufrechterhalten, andererseits bleiben die meisten Strafen folgenlos. Juízo begibt sich nicht auf die Ebene individueller Identifikation, wie es so viele wichtige Filme des brasilianischen Kinos seit Pixote getan haben - das Schicksal der Straßenkinder interessiert hier nur, insofern sie durch ihre Delikte in Berührung mit dem Staat kommen.

Sobald sie aber unter Anklage stehen, dürfen sie nicht mehr gefilmt werden. Deswegen ist Juízo ein gespielter Dokumentarfilm, ähnlich wie zuletzt 10ème chambre, instants d'audience von Raymond Depardon, der in einem Pariser Lokalgericht gedreht hatte und ebenfalls "Stellvertreter" auftreten ließ. Unausdrücklich verhandeln diese Filme sehr grundsätzlich eine mögliche Position des Kinos in der Demokratie: neben Formen der individuellen Anteilnahme gibt es auch Formen, in denen die Ordnung des Zusammenlebens im Mittelpunkt steht.

Der Riss, der durch Juízo geht und darin besteht, dass ein Dokumentarfilm nicht registriert, sondern darstellt, entspricht dem Riss zwischen Illegalität und Legalität, zwischen gebeugtem und erhobenem Haupt. Juízo symbolisiert das Gesetz nicht, sondern zeigt es - in seinen Vertretern wie der Richterin Luciana Fiala da Siqueira Carvalho. (Bert Rebhandl / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.10.2007)