Besonders attraktiv für Selbstmörder: die Ganterbrücke in Peter Kerns "Nur kein Mitleid".

Foto: Viennale

Wenn es in Dokumentarfilmen um kranke Menschen geht, verlangt der Gegenstand eine sensible Annäherungsweise. Es haben sich bestimmte Konventionen herausgebildet, mit denen ein Filmemacher anzeigen kann, dass er sein Interesse nicht über die Würde des Dargestellten stellt: eine Form der Zurückhaltung, die sich auch über ein Bild ausdrückt. Doch es ist ein schmaler Grat zwischen Einfühlung und Mitleidsmasche. Und manchmal ist auch zu wenig zu viel.

Peter Kerns Filme bürgen dafür, dass sie sich nicht mehr vormachen, als der Autor zulässt. Sie sind auf eine Weise privat - und das bedeutet letztlich auch: von keiner staatlichen Stelle subventioniert -, die sie immanent politisch werden lässt. Wenn Kern also zu den Kranken geht, dann darf man einiges erwarten: auf jeden Fall eine Form von Unmittelbarkeit, die sich nicht über gängige inszenatorische Standards wegfiltern lässt.

In Nur kein Mitleid begegnet Kern demenzkranken Patienten in einer Altersheim in Zürich mit einer ungewöhnlichen Direktheit. Da kann es vorkommen, dass ein wortkarger älterer Herr lieber herzhaft gähnt, als auf die Frage des Filmemachers zu antworten, was dieser dann mit seinem ungestümen Lachen quittiert. Ein Lachen, das nichts Herablassendes an sich hat, sondern vielmehr Überraschung und Neugierde ausdrückt.

Kern interessiert sich in Wahrheit allerdings nur vermittelt für die Patienten. Der eigentliche Protagonist ist eine Beagle-Hündin namens Hedda, die, nachdem sie aus einem Tierversuchslabor befreit wurde, als "Therapeutin" arbeitet. Hedda steht für eine affektive Annäherung an Patienten, die Menschen unmöglich ist. Sie gibt, begleitet von ihrer Besitzerin Patricia, den Kranken jenes Maß an Zuneigung, das sie in ihrem Zustand so dringend benötigen.

Über den Hund gelangt der Film aber auch an einen weiteren erstaunlichen Protagonisten, der aus einer Grenzerfahrung seine Lektionen gezogen hat. Steven Mack ist bei einem Sprung mit einem Bergseil aus 150 Meter Höhe - einer extremen Variante des Bungee-Jumpings - abgestürzt und an den Folgen seiner Verletzungen erblindet. Der Ort des Geschehens, die Ganterbrücke im Wallis, erfreut sich unter Selbstmördern an Beliebtheit.

Steven ist ein paradoxer Held - und deshalb perfekt für einen Peter-Kern-Film: Seinen Absturz hat der 20-Jährige nie bereut, weil er ihn näher ans Leben gebracht hat - er meint sogar, er habe ihm die Augen geöffnet. Nur kein Mitleid interessiert sich für diese innere Wahrnehmung Stevens, die der Film genauso nachzuvollziehen versucht wie dessen Ausländerhass. Auf diese Weise gelangt er auf die andere Seite des Offensichtlichen. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.10.2007)