Eine Spionin, die sich in den Feind verliebt: Jiazhi (Tang Wei) in Ang Lees Film "Gefahr und Begierde", der ab nächster Woche in heimischen Kinos zu sehen ist.

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Ang Lee: "Sex ist der ultimative Darstellungsakt."

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Der Regisseur über Liebe als Mimesis, Schauspieler, die Tiere imitieren, und die Faszination des Vergangenen.
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Standard: Mr. Lee, "Gefahr und Begierde/Se, jie" ist ein historisches Spionagedrama, in dem es um eine junge Frau geht, die im Trubel der Ereignisse beinahe auseinandergerissen wird. Was hat Sie an dieser Verbindung aus Privatem und Historischem fasziniert?

Ang Lee: Sie haben es in Ihrer Frage bereits beantwortet: Eine Figur, die innerlich in Stücke gerissen wird, ist natürlich tolles Filmmaterial. Ich halte Eileen Chang, von der die Geschichte stammt, für die bedeutendste chinesische Gegenwartsautorin. Das Buch ist relativ unbekannt. Sie schrieb es in reiferem Alter. Es geht um China während des Zweiten Weltkriegs, eine Ära, über die es verboten ist zu sprechen. Das Faszinierende aber daran ist, dass es im Grunde um Eileen Chang selbst geht.

Standard: Und ihre Perspektive ist hochdramatisch ...

Lee: Ja, es hat mich gefesselt, diesen so ruhmreichen Krieg gegen Japan vom Standpunkt der weiblichen Sexualität zu untersuchen. Das ist ein Tabu. Es ist eigentlich zum Fürchten. Eileen Chang ist eine mutige Frau. Und es hat mich natürlich besonders gebannt, dass es in dieser Geschichte um Verstellung, um Schauspiel geht. Darum, wie das Schauspiel das eigene Ego affiziert. Ich habe lange gezögert, das umzusetzen, weil ich Angst davor hatte.

Standard: Wovor? Vor der weiblichen Sexualität?

Lee: Weniger vor der weiblichen Sexualität als davor, wie sie hier mit Patriotismus in Verbindung gebracht wird. Das ist einfach nur verboten.

Standard: Sie haben gesagt, Schauspiel spielt eine große Rolle. Geht es darum, vorzuspielen, dass man liebt?

Lee: Ja, und um zu spielen, dass man liebt, muss man sehr viel Glauben investieren - in die Darstellung. Nur so kann Jiazhi überzeugend sein. Allerdings ist die Suche und Verwirklichung dieser Wahrhaftigkeit des Spiels so intensiv, dass daraus Liebe wird.

Standard: Die Grenzen lösen sich auf.

Lee: Genau. Und je verbotener diese Affäre ist, umso mehr Erregung bringt sie mit sich. Das wird der Auslöser der Liebe. Aber nichts ist offensichtlich. Es ist sehr schwer zu sagen, wer hier die Oberhand behält und wem die aktive Rolle zufällt.

Standard: Auf der einen Seite erzählt der Film eine Genregeschichte: eine Spionin, die sich in ihr Objekt verliebt. Auf der anderen Seite ist das Genre nur ein Vorwand, um sehr viel tiefer zu gehen ...

Lee: Ich mag es, ein Genre zu verwenden und es glaubwürdig zu machen. Man muss eben die Konsequenzen tragen. Üblicherweise sieht man in einem Film über Spione, wie sich Feinde töten oder sich verlieben, aber der Sex wird weggelassen. Sie bekommen "Killer-Thriller", aber es wird nicht erzählt, wie sich das Töten anfühlt. Man kann das Menschsein erforschen und sehr unterhaltsam sein.

Standard: Bemerkenswert ist, dass Jiazhi nie zum Opfer wird. Selbst nach einer Vergewaltigung durch ihren Feind Mr. Yi huscht ihr ein Lächeln über das Gesicht.

Lee: Hat Sie das verstört?

Standard: Nein, ich fand es sehr ... irritierend, aber durchaus nachvollziehbar.

Lee: Das ist Ironie. Jiazhi ist das Opfer, sie spielt aber auch eine Rolle. Sie ist so aufgeregt. Deswegen musste ich die beiden warten lassen, bis sie sich wieder sehen. Als Studentin in Schanghai ist Jiazhi noch ein Nichts: Es gibt kein Licht in ihrem Gesicht, kein Make-up. Sie ist völlig verloren. Als ihr der Studentenführer aber sagt, dass ihr Geschäft noch nicht erledigt ist, beginnt sie zu leuchten, ähnlich zu Schauspielern, die Rollen spielen.

Standard: Die Sexszenen sind außerordentlich deutlich und werden breit ausgespielt. Man hat den Eindruck, dass sie wie eine Bühne für das Verhältnis der Figuren funktionieren. Wie haben Sie sie konzipiert?

Lee: Für mich ist Sex der ultimative Darstellungsakt. Es ist so aufregend wie erschöpfend, das zu drehen. Ich kann nicht sagen, wie ich die Szenen entworfen habe: Etwas hat mich zu ihnen hingezogen, eine eigene Kraft. Mir war ihre Bedeutung nicht von Anfang klar, ich hatte höchstens unbewusst einen Plan. Aber nach und nach wurde mit bewusst, dass man damit sehr viel über die Figuren erzählen kann, weil so viel von ihnen darin zum Ausdruck kommt.

Standard: Der Sex hat auch etwas Animalisches. Wollten Sie damit zeigen, wie sich Menschen von sozialen Rollen lösen?

Lee: Ich habe Tony Leung gesagt, er soll zwei Tiere imitieren: einen Wolf, denn das ist das Tier, das er über den längsten Zeitraum der Geschichte ist. Ein Jäger, der sich nur über die Sexualität und die ihr innewohnende Brutalität ausdrücken kann. Das andere Tier ist eine Maus. Eileen Chang schreibt, dass er wie eine solche aussieht. Mr. Yi ist nicht einfach nur ein Landesverräter, er hat selbst Angst. Man sieht das schon daran, wie er sich bewegt. Wie er sich umschaut. Ich habe Tony jede Menge Discovery-Channel-Material zum Anschauen gegeben.

Standard: Und welches Tier ist Jiazhi?

Lee: Eine Katze. In der Art, wie sie mit ihm spielt.

Standard: Wie jeder Ihrer Filme ist auch "Gefahr und Begierde" reich an Details. Sind Sie ein Perfektionist, was Ausstattung, Kostüm und all diese historischen Verweise betrifft?

Lee: Ich halte sie für sehr wichtig. Man sollte sich anstrengen, so nah wie möglich an eine bestimmte Geschichte und ihre Zeit zu kommen. Ich esse, schlafe und gehe mit dem Film spazieren. Ich bemühe mich, jeden noch so kleinen Aspekt zu berücksichtigen.

Standard: War es für Sie einfacher, die chinesische Vergangenheit zu rekonstruieren als zum Beispiel jene einer mittelständischen US-Familie der 70er-Jahre?

Lee: Sie sprechen von The Ice Storm. Amerika, 1976, war mir tatsächlich fern genug, um als Kostümfilm zu funktionieren. Wenn etwas bereits geschehen ist, dann kann man es recherchieren und auf die richtige Art wieder auferstehen zu lassen. Es gibt eine Art Konsens in der Erinnerung, wann etwas stimmig ist. Womöglich bin ich auch vollkommen am Holzweg. Manchmal fühle ich mich der Gegenwart so enthoben. Ich würde lieber in der Vergangenheit leben. Die Gegenwart ist kaum festzuhalten. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.10.2007)