Linda Stift liegt es fern, mit ihrem zweiten Roman "Stierhunger" so etwas wie die Konfession einer Essgestörten vorzulegen.

Foto: Heribert Corn
Kochbücher und -shows haben sich zum Megatrend entwickelt. Vom Profiboxer bis zum Topmanager gewähren heutzutage so gut wie alle Berufsgruppen Einblicke in ihre Töpfe und Pfannen. Gleichzeitig regiert ein am Skelett maßnehmendes Schönheitsideal, dem Genüge zu tun an und für sich erfordern würde, mit dem Essen die ganze aufwändige Kocherei abzuschaffen und höchstens gelegentlich eine Pille zu verabreichen. Linda Stift, die schon in ihrem bemerkenswerten Debütroman Kingpeng ganz nebenbei das Tubensugo erfinden hat lassen, beschäftigt sich in ihrem neuen Roman mit einer radikalen Lösung dieses in der zweiten Natur zeitgenössischer Nahrungsketten liegenden Dilemmas: der Bulimie.

Brech- und andere Reize

Glücklicherweise lag es der 1969 in der Südsteiermark geborenen Schriftstellerin aber fern, so etwas wie Konfessionen einer Essgestörten zu verfassen. Die bizarren Rituale der an Ess- und -Brechsucht leidenden Ich-Erzählerin werden dennoch so penibel geschildert, dass sich das Buch auf nervöse Lesermägen schlagen könnte: "Das lautlose Erbrechen musste ich mir erst mühsam erarbeiten, begonnen hatte ich damit, mir Zahnbürstenstiele, Pinsel oder Straußenfedern, die ich mir extra für diesen Zweck kaufte - ich hatte gelesen, dass es die alten Römer damit machten -, in den Rachen zu stecken. Mit den Fingern hatte ich keinen Erfolg, ich kam nicht tief genug hinunter, bis zu dem Bereich, wo der Brechreiz beginnt."

Über Brechtechniken, die von der hübschen jungen Frau mit den herausstehenden Hüftknochen im Laufe der Jahre zu einem "neuen Kotzsystem" weiterentwickelt wurden, informiert Stierhunger ebenso kenntnisreich wie über mit der Sucht korrespondierende Nebenwirkungen: "Früher stieg ich alle paar Minuten auf die Waage." Weniger deutlich werden die Ursachen ihrer "Abartigkeit"; wer inquisitorisch veranlagt ist, kann immerhin mithilfe der in den Text eingestreuten sozialpsychologischen Verdachtsmomente einen Indizienprozess anstrengen: Von der Fremdheit des eigenen Körpers und vom Wunsch, sich in Luft aufzulösen, ist die Rede, und im Prater-Sexmuseum resümiert die Protagonistin die Geschichte weiblicher Schönheitsnormen angesichts "erotischer" Daguerreotypien aus dem vorletzten Jahrhundert: "Mädchen alleine oder zu zweit auf Diwanen liegend, mit Schleiern drapiert oder an Bäume gelehnt, mit fröhlich verschmitztem Gesichtsausdruck, sich ihrer dicken Schenkel und Bäuche anscheinend überhaupt nicht bewusst. Das war etwas anderes als die zähnefletschenden und durchtrainierten Models unserer Zeit, die nur ein frostiges Lächeln zustande bringen, von dem man behauptete, es sei verführerisch."

Der Gefahr, Stierhunger bloß als realitätsgesättigtes Fress-und-Kotz-Tagebuch misszuverstehen, hat Linda Stift also gründlich vorgebeugt. Zum Zweck der zeitlich-räumlichen Spielfelderweiterung hat sie zudem eine schillernde historische Figur engagiert: Kaiserin Elisabeth geistert in mehrfacher Gestalt durch den Roman. Zunächst einmal lernt die Ich-Erzählerin eine ältere, magere Frau kennen, die der Kaiserin nicht nur ähnlich schaut, sondern auch Kleider trägt, die jenen "Sisis" nachempfunden sind.

Diese ganz in der Vergangenheit lebende Gräfin Hohenembs, deren Wohnung wie das "Nest einer fremden Spezies" eingerichtet ist, lädt die junge Frau zu sich nach Hause ein. Schon bald zappelt die Bulimiekranke im Netz der sonderbaren Sisi-Reinkarnation, wird deren Bedienstete und assistiert ihr bei skurrilen Coups. Gemeinsam mit der Köchin Ida brechen sie in Museen ein, stehlen die Kokainspritze Elisabeths oder bringen umgekehrt einen gut erhaltenen Männerkopf - angeblich den des Anarchisten und Sisi-Mörders Luigi Lucheni - aus der Wohnung in den Wiener "Narrenturm". Außerdem unterbrechen immer wieder kursive Passagen die Romanhandlung, in denen eine enge Vertraute - Freundin? Geliebte? - der Kaiserin intime Einblicke in das Leben der Trivialmythen und Lebensstile stiftenden Stilikone zwischen weiblicher Selbstbestimmungssehnsucht, Diätwahnsinn, Schönheitskult, Drogen und freakiger Vergnügungssucht gewährt.

Doppelte Böden

Ob die Hohenembs, die nie auftauchende beste Freundin Charlotte oder ein rätselhaftes Polizisten-Paar, das den Fluchtversuch aus den Fängen der falschen Sisi beendet, bloß das Hirngespinst einer paranoiden beziehungsweise persönlichkeitsgespaltenen jungen Frau sind, bleibt letztendlich unklar. Gerade deshalb stellt sich bei der Lektüre von Stierhunger - wie bei Kingpeng - schnell das beunruhigende Gefühl ein, dass die ins Textgebäude eingezogenen doppelten Böden nur die grundsätzliche Haltlosigkeit unserer Wirklichkeitskonstruktionen kaschieren.

Linda Stifts Buch könnte aber auch gut und gerne das Protokoll eines letztendlich amüsanten Albtraums sein, den David Lynch träumte, nachdem er bei einem Wien-Aufenthalt zu viele Sisi-Filme, -Musicals und -Ausstellungen gesehen, anschließend noch im pathologisch-anatomischen Museum über die "Abweichung von der Norm" meditiert und abschließend in der Konditorei einen ganzen Gugelhupf verzehrt hatte. (Ewald Schreiber, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.10.2007)