"Die traurigste Aussage, die man derzeit über die USA treffen kann, ist: Während wir uns langsam in Richtung Faschismus bewegen (so weit kann es nämlich durchaus kommen, wenn eine größere Depression eintritt oder eine schmutzige Bombe explodiert), erwarten wir nicht nur die Katastrophe sondern sehnen sie regelrecht herbei."

Foto: STANDARD/Cremer

Der große alte Mann der US-Literatur und Galionsfigur der US-Linken Norman Mailer befürchtet nach der Wiederwahl Bushs das Schlimmste.

Bushs Sieg wird dereinst in der langen Liste unvergesslicher Ironien der amerikanischen Geschichte einen Ehrenplatz einnehmen. Hier noch einmal über die Lügen, Manipulationen und die geistige Mittelmäßigkeit der Post-/9/11-Jahre zu reden, ist allerdings müßig. Erst müssen wir uns von dem Schock erholen, dass offenbar weder die Erfahrung des schlimmsten Übels noch unsere Abscheu davor seine Durchsetzung verhindern kann.

Wer also sind wir? In welchem Zustand befinden sich die Amerikaner?

Ein kurzer Blick auf unsere Filmstars könnte hilfreich sein: Die liberale Linke wurde unterstützt von Schauspielern wie Warren Beatty und Jack Nicholson, die von Amerikas Zynismus und vom Verrat unserer Ideale gesprochen haben. Aber die Wertvorstellungen der politischen Mitte Amerikas haben sich verschoben: weg von der Anständigkeit Gary Coopers, hin zum selbstsüchtigen Kämpfertyp John Wayne. Das Auftauchen Arnold Schwarzeneggers markiert den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung: Während seines heftig akklamierten Auftritts am republikanischen Parteitag teilte "Arnie" allein kraft seiner körperlichen Präsenz den Amerikanern mit: Sollte jemals der Wunsch nach einem Diktator aufkommen, lasst euch gesagt sein, Leute: ich verfüge über das härteste Kinn seit Benito Mussolini! Täuschungen werden dann bald nicht mehr notwendig sein: Wir befinden uns im Übergang von der Ära des Spins zur Ära des Kinns.

Beispiel Grenada

Zur Erinnerung: 1983, sozusagen in der Gründerzeit des Spins wurden 243 Marines in Beirut bei einem Terroranschlag zerfetzt. Zwei Tage später schickte Reagan 1.200 Marines nach Grenada, 3.000 Meilen von Beirut entfernt. Und gerade als man die Invasionstruppe auf 7.000 Mann aufgestockt hatte, war der (Wahl-)Kampf auch schon wieder vorbei.

Die US-Armee verlor 19 Mann, auf grenadischer Seite starben 49 Soldaten und 29 Bauarbeiter aus Kuba. Der Kommunismus in der Karibik war damit kaputt (sieht an von der kleinen Ausnahme Castro ab). Und nach dem Blitzsieg über das feindliche Gesindel war Reagan auch gleich in der richtigen Stimmung, um dem Drängen seiner Anhänger, nun endlich zu erklären, dass Amerika damit die Schande des Vietnamkrieges getilgt habe, nachzugeben. Reagan verstand, was Amerika brauchte, und das war "Spin": Es war wichtiger zu hören, dass wir gesund sind, als gesund zu sein.

Bush und sein Berater Rove haben diese Einsicht noch um eine Dimension erweitert, indem sie so taten, als wäre unsere Sicherheit extrem gefährdet. Als Imperium sind wir ja Neureiche: Um zu überspielen, wie unbehaglich wir uns in dieser Rolle fühlen, scheffeln wir Geld. Die traurigste Aussage aber, die man derzeit über die USA treffen kann, ist: Während wir uns langsam in Richtung Faschismus bewegen (so weit kann es nämlich durchaus kommen, wenn eine größere Depression eintritt oder eine schmutzige Bombe explodiert), geraten wir zunehmend in eine Situation, wo wir die Katastrophe nicht nur erwarten, sondern sie regelrecht herbeisehnen.

Wir sind eine schuldige Nation geworden. Und tief im Inneren unseres Nationalbewusstseins sind wir uns über den kleinen Widerspruch, in dem wir befangen sind, auch im klaren: Am Sonntag lieben wir Jesus, den Rest der Woche beten wir für unser Bankkonto. Wie sollten wir da nicht auf jemanden setzen, der uns erzählt, wie gut und rein wir sind und dass er uns beschützen wird? – Für Bush & Co. war 9/11 ein Jackpot – und dass George W. das Trinken aufgab, wahrscheinlich die einzige heroische Tat seines Lebens. Die US-Bürger aber müssen jetzt dafür zahlen.

Gott schütze Amerika! Wir haben es zwar vielleicht nicht verdient, aber ein wenig Hilfe von oben könnten wir jetzt wahrlich gebrauchen. Bush ist schließlich tief davon überzeugt, dass ihn in der Stunde der Bedrängnis der Teufel nicht im Stich lassen wird. Sein Irrtum besteht nur darin, dass er den, der durch ihn spricht, für Gottes Sohn hält.

Offenbar durchleben wir also derzeit ein ganzes Kaleidoskop der Ironien. Und vermutlich steht uns das Schlimmste noch bevor. Vielleicht wacht auch schon längst nicht mehr Jesus oder Allah über unser Schicksal, sondern die griechischen Götter sind wieder am Drücker. Schließlich waren sie, was die Verknüpfung von Schicksal und Ironie betrifft, Pioniere. (Norman Mailer [Übersetzung: M.J.], DER STANDARD, Printausgabe, 6./7.11.2004)