Vermutlich kam ich auf seine Werke wie auf viele andere, durch meine Deutsch-Professorin. Sie war in eine Abbildung des jungen Heine verliebt, die sie während des Unterrichts auf einer Postkarte herumreichte, und las Wiener Mundart-Gedichte mit einer solchen Hingabe, dass ich immer weiter und mehr hören wollte. Mitgutsch und Bachmann legte sie mir ans Herz, Rinser und Wolf und irgendwann wohl auch Ransmayr. Ich begann mit der Letzten Welt und konnte nicht aufhören zu lesen, obwohl vieles unverständlich blieb. Der fehlende Lateinunterricht, meine Unkenntnis der Metamorphosen, die Komplexität des Ganzen erschwerten die Lektüre, aber es war mir als würde ich etwas verstehen, etwas erfühlen, was wichtiger war. Ich verstand die Sprache, die Ransmayr sprach, ich spürte die Gewalt seiner Worte und ich verliebte mich in den Klang seiner Silben und den Rhythmus seiner Sätze. Und zum ersten Mal wurde mir bewusst, welche Macht die Sprache über mich hatte. Ich war ein Sprach-Mensch; kein Kind, das Geschichten liest und dazu im Kopf Bilder malt, sondern das Kind, das alle Bilder um sich in Worte fassen muss. Da stand ich – als in ihrer Lesefreude von den Eltern stets Verwöhnte – an einem Sonntag inmitten der Letzten Welt, stand am offenen Fenster und war in Trachila und musste alles, was ich sah, in Worte fassen, mir selber erzählen. So also kam Ransmayr in mein Leben…
Viele seiner Texte habe ich gelesen, einige mehrmals, zum Teil auch nur einzelne Stellen, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind und die ich oft stundenlang wieder zu finden versuche, weil auch die Eselsohren inzwischen zu viele für einen sinnvollen Hinweis sind; an den Schrecken des Eises und der Finsternis jedoch scheitere ich immer noch und komme nicht über die zehnte Seite hinaus, so sehr ich es auch wieder und wieder versuche...
Vor einem Jahr: Der fliegende Berg. Ich höre im Radio vom "lang erwarteten neuen Roman": Die "ungewöhnliche" Form – "Flattersätze", was soll das heißen? "Strophen, aber kein Gedicht"? Die Geschichte: zwei Brüder in den Bergen – eine archetypische Geschichte? –, nur einer kehrt zurück… Ein paar Tage später, in der nächsten Buchhandlung springt mir unter den Neuerscheinungen der blaue Umschlag ins Auge: Zwei Quallen im Meer. Was hat das mit Bergen zu tun? Ich streiche zärtlich über den Buchrücken, wie ich es immer tue, wenn ich in eine Buchhandlung gehe, um den Geruch von bedrucktem Papier einzuatmen. Der Gedanke an Bücher entspannt mich. Wahllos schlage ich eine Seite auf und lese ein paar Zeilen…
Sofort fühle ich mich gefangen in der sanften Art des Erzählens von Dingen, die nicht sanft sind und die mich erdrücken würden, wären da nicht auch Schmetterlinge im Sterben und das Lachen eines Bruders und immer wieder eine Sprache, deren Rhythmik mich weiter trägt. Kurz hadere ich mit mir: Noch ein Buch, das ich haben muss bevor es als Taschenbuch erschienen ist, noch ein Buch, das zu schwer wiegt zum Lesen in der Straßenbahn und das sich im Gedränge der U-Bahn nur schlecht halten lässt… Dann kaufe ich es doch und habe die kommenden Tage verspannte Schultern, weil es schwer ist in meiner Handtasche und ich es überall hin mitnehme. Aber ich bin froh über die Last auf meinen Schultern, auch wenn ich nicht alles erfassen kann, was ein Jahrzehnt Arbeit aus diesen zwei Brüdern und ihren Sehnsüchten und Ängsten und ihrer Vergangenheit gemacht und in die Bilder einer mir so fremden Welt wie die Berge des Tibets gelegt hat. Ich atme dennoch jedes Wort und möchte nicht aufhören zu atmen bevor die Geschichte zu Ende geht…
Ein halbes Jahr später: Ich wage mich näher heran an Ransmayr und kaufe Karten für eine Lesung am oberösterreichischen Narzberggut. Wieder Der Fliegende Berg. Nervös sitze ich in einer der hinteren Reihen. Ich mag keine Autorenlesungen, sie zerstören mein Bild eines Schriftstellers, weil nur die wenigstens so gut lesen wie sie schreiben und die Melodie in meinem Kopf meist anders klingt. Den Schriftsteller entmachten, um der eigenen Interpretation der Sprache Raum zu geben, ich bin ein störrischer Leser. Und irgendwo ist da die Angst, künftig eine fremde Stimme im Kopf zu haben, wenn ich mich wieder mal an Die Schrecken heranwage…