Am Donnerstag präsentiert er das Buch in der Alten Schmiede in Wien.


Wien – "Bis zu der Zeit, als man auf der Straße gegenüber den Block hochzog und daher alles hinter Planken verschwand und die Luft nicht mehr zum Atmen war, schaute ich stets nächtelang durch das dreiteilige Panoramafenster meiner Wohnung an der Stefan-cel-Mare-Chaussee auf Bukarest hinaus. (...) Die Füße stützte ich auf den Heizkörper unter dem Fenster auf, so dass mir im Winter die Sohlen brannten und ich unterschwellig ein perverses Gemisch von Wohligkeit und Qual empfand."

So hebt Mircea Cartarescus Roman Die Wissenden an. "Wohligkeit und Qual" – das ist ein Gefühlsgemisch, aus dem hier große Literatur entsteht. Ausgehend von Blicken aus der elterlichen Wohnung und anderen furios reimaginierten Kindheitsbildern gelingt dem rumänischen Autor in seinem über 500 Seiten starken Buch ein aufregendes Porträt Bukarests vor, während und nach der Ceauºescu-Diktatur.

Was James Joyce für Dublin geschaffen hat, das hat Cartarescu nun seiner Heimatstadt errichtet: ein literarisches Denkmal. Die Wissenden liefert freilich kein schnöd realistisches Porträt. Es erhitzt das Gemüt des Lesers mit surrealen, dem magischen Realismus geschuldeten Geschichten aus einer Stadt voller Verheißungen, Möglichkeiten und Gefahren.

Bukarest ist dann auch "nur" eine Seite von Cartarescus Prosakunstwerk, so wie die Die Wissenden lediglich ein Drittel des Roman-Triptychons (Betonung auf Trip!) Orbitor bildet, das in Rumänien zwischen 1996 und 2007 publiziert wurde. Ausgehend von der Kindheit des Mircea genannten Erzählers, die neben endlosen Tagträumereien auch lange Spitalsaufenthalte beinhaltete, steigt dieser tief hinab "ins skythenländische Delirium" und unternimmt "Maulwurfstouren durch das Kontinuum Realität – Halluzination – Traum".

Dem Leser fällt es zunächst schwer, ihm zu folgen, aber die Intensität der Schilderungen nimmt gefangen. Markerschütternd etwa die Episode, wie Cartarescus Großeltern einst von Bulgarien nach Rumänien gelangten. Sie wurden von ihren untoten Vorfahren vertrieben: "Zu Winterbeginn, am Tag der heiligen Märtyrer Mina, Ermogenios und Eugraphos, bahnte sich ein fauliges, kahles und zähnebleckendes Heer seinen Weg hinaus in die weiße Welt." Es folgt eine Vampirgeschichte, in der es Blut und Sperma regnet.

Cartarescus Stil ist das Produkt einer gewaltigen Imagination und Sprachmacht. Man merkt dem in den frühen 90er-Jahren entstandenen Roman an, wie befreit die Wörter auf die Seiten niedergeregnet sein müssen. In Rumänien war eine neue Zeitrechnung angebrochen, dem Autor war es nun möglich, aus dem staatlich verordneten Realismus auszubrechen und sich in fantastischen Bildern zu entflammen.

Beobachtern der osteuropäischen Literatur gilt der 1956 geborene Cartarescu schon viele Jahre lang als ein Riese, der irgendwann auch in unseren Breiten entdeckt werden würde. Jetzt ist es so weit. Die Kreuzung seiner literarischen Umlaufbahn mit der deutschen Sprache in Gerhardt Csejkas Übersetzung von Die Wissenden wird momentan in den Feuilletons von der Neuen Zürcher Zeitung bis zur Frankfurter Rundschau zu Recht als weltliterarische Sensation gefeiert.

Tief unten verfügt dieser maßlose Roman, in dem bald ein opferlustiger Voodoopriester aus New Orleans die Fühler nach Bukarest ausstreckt und die Apokalypse nie weit entfernt zu sein scheint, sogar über ein erstaunlich solides Fundament. Alles dreht sich um den ewigen Kampf zwischen Dunkelheit und Licht, Teufeln und Engeln oder, um es mit dem Hobby-Insektenforscher Cartarescu zu sagen, "zwischen der Spinne und dem Schmetterling".

Literatur ist für Cartarescu dabei primär ein Akt des Erinnerns. Gedächtnis begreift er als die Summe aller Metamorphosen im Leben: "Und ohne einen mutigen Sprung in die tiefen Milchfluten, die es umgeben und als Schmetterlingspuppe des Kopfes verborgen halten, werde ich niemals wissen, was ich war, was ich bin: eine gefräßige Gottesanbeterin, eine verträumte Spinne oder ein Falter von übernatürlicher Schönheit." Sein Roman ist all das in einem. Und wie der Typ spinnt! (Sebastian Fasthuber / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.11.2007)