In Wien gehen die Uhren anders. Urbaner wird Österreichs wichtigste Stadt trotzdem. Auf dem Praterstern entsteht gerade ein schmucker neuer Bahnhof, einige der "Speckgürtel"-Bewohner, die ihn täglich nutzen, zieht es womöglich bald wieder in die Stadt.

Foto: Der Standard/ Christian Fischer
Wien gilt als eine der saubersten Städte der Welt – gleichzeitig spricht man hier verniedlichend von "Trümmerln", wenn die auf Gehsteigen und Grünflächen herumliegenden Hundehaufen gemeint sind. Bezüglich CO2-Reduktion ist Wien anderen Großstädten weit voraus – dennoch gehören die Straßen den Autofahrern; Radler und Fußgänger leben gefährlich. In den Bundesländern sind die Hauptstädter als Grantler verschrien – Touristen aus dem Ausland schwärmen hingegen vom Wiener Charme.

Wien ist voller Widersprüche: einerseits eine stetig wachsende Metropole mit hoher Lebensqualität, andererseits ein von veränderungsscheuen Menschen bewohntes überdimensionales Freiluftmuseum. Dieser Stadt kommt selbst der eingefleischte Wiener nur schwer auf die Spur. Die Standard-Serie "Wien im Wandel" nähert sich der Bundeshauptstadt in 13 Teilen. Was macht Wien besonders, und vor allem, wie wird es sich in den nächsten Jahren verändern?

In 30 Jahren ist Wien laut Demografen eine 2- Millionen- Metropole. Und obwohl die Lebenserwartung der Menschen steigt, werden Schätzungen zufolge dank Zuwanderung bis 2050 in keinem anderen Bundesland so wenige über 60-Jährige leben wie in Wien. Während sich in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich Menschen aus der Türkei und Ex-Jugoslawien niederließen, wird die Gruppe der Zuwanderer künftig wesentlich heterogener sein, was optimistische Stadtplaner hoffen lässt, dass sich die "Migrantenviertel"-Problematik ganz von selbst löst. Die neuen Zuwanderer kommen vor allem aus den neuen EU-Ländern. Wien wird urbaner. "Wir beobachten in den letzten Jahren eine starke Zunahme der Hauptwohnsitze in den innerstädtischen Bezirken", sagt Johannes Gielge, der sich bei der MA 18 (Stadtentwicklung) mit Trendanalysen beschäftigt. Die Nachfrage nach Wohnraum in dichtbebautem Gebiet ist gestiegen.

Gleichzeitig lässt sich jedes Jahr eine beträchtliche Zahl von Stadtmenschen im Umland nieder. Die "Suburbanisierung" könnte ihren Höhepunkt aber bereits überschritten haben, glaubt Gustav Lebhart von der Statistik Austria. "Es gibt zwar noch keine empirischen Beweise für einen Trend, die Veränderung der sozialen Strukturen wird sich aber auch auf die Mobilität der Menschen auswirken." Erstens steige die Zahl der Singles und Geschiedenen, die keinen Grund sähen, an den Stadtrand zu ziehen, und zweitens gebe es immer mehr rüstige Pensionisten, denen eine Stadt der kurzen Wege mit reichhaltigem Kulturangebot und guter medizinischer Versorgung wichtiger sei als das Eigenheim im sogenannten Speckgürtel. Tatsächlich liegt die Zahl der Single-Haushalte in Wien bei beachtlichen 46 Prozent.

Neue Stadtbewohner bringen neues Leben – manches wird sich aber wohl nie ändern. "Wien ist die größte Kleinstadt der Welt", sagt Historiker und Stadtforscher Peter Payer "hier gehen die Uhren anders." Payer beobachtet aufseiten seiner Mitbürger ein beachtliches Beharrungsvermögen. "Wir Wiener sind es gewohnt, von oben regiert zu werden. Und solange alles funktioniert, ist uns das auch ganz recht so."

Dennoch regt sich ziviler Ungehorsam. In den letzten Jahren ist die Zahl der Bürgerinitiativen stark gestiegen. Und dank einer Gruppe von Müttern, die 157.000 Unterschriften gegen die "Verkotung der Stadt" sammelte, stellt sich auch die Stadtregierung dem Problem Hundedreck.

Wien wird immer schöner. Bezüglich Freiflächenbehübschung legt sich das Stadtgartenamt ins Zeug, der erste Bezirk ist ohnehin eine liebevoll herausgeputzte historische Ministadt in der Stadt. "Ich bezweifle, dass die Wiener die Innenstadt noch als Zentrum ansehen", sagt die Soziologin Anette Baldauf, die sich in ihrem Buch "Entertainment City" mit dem Phänomen der Inszenierung von westlichen Innenstädten für den Tourismus beschäftigt. Zwar halte sich die Kommerzialisierung der City vergleichsweise in Grenzen, "tendenziell fühlt sich aber auch der Wiener in der Innenstadt als Besucher".

Der Stadtkern als unbekannter Ort? Auch das passt gut zur Hauptstadt der Widersprüche. (Martina Stemmer und Marijana Miljkoviæ/DER STANDARD, Printausgabe, 17.11.2007)