Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte Thomas Rottenberg

Es war vor etwa zwei Wochen. Da sagte A. an einer Kreuzung, dass ich ihr doch rasch eine Münze rauskramen sollte. Ja, auch und obwohl ich mit dem, was ich jetzt sagen würde, im Prinzip eh recht hätte. Nur, setzte A. fort bevor ich noch überrissen hatte, worum es gehen könnte, sei es eben so, dass es da draußen kalt und nass und schneeregnerisch und windig und überhaupt bäh sei – und man da, zwischen den Fahrzeugen auf der Kreuzung, wohl gotterbärmlich frieren müsse. Nicht im Prinzip, sondern im echten Leben.

Ich verstand zwar noch immer nicht, hatte aber ein paar Münzen aus meiner Hosentasche ausgegraben. Und bevor ich fragen konnte, wovon A. eigentlich sprach, hatte sie mir ein Zweieurostück aus der Hand genommen, das Fenster ein Stück heruntergelassen und die Münze in den zerknautschen Coffee-to-go-Becher des zerlumpten Mannes geworfen, der da während der Rotphase zwischen den Autos durchgehumpelt war.

Almosen

Ich brauchte ein paar Atemzüge, um zu verstehen, was ich da gerade gesehen hatte: Bettler, die sich an großen Kreuzungen zwischen den Autos durchschlängelten und um Almosen baten, kannte ich. Ich hatte sie auch schon selbst gesehen. Oft sogar. Von Kambodscha über Vietnam bis Bangkok. In indischen und türkischen Großstädten. Auch in Osteuropa. Oder in Bürgerkriegs- und Elendsregionen – kurz: überall dort, wo die Straßen der Reichen durch die Elendsviertel führten. Wo die Armen versuchten, aus dem Fahrtwind der Reichen ein paar brauchbare Bröseln abzufangen. Manchmal sogar mit Gegenleistung: Scheibenputzen, Taschntücherverkauf oder Süßigkeiten und Drinks ... Aber in Wien?

A fuhr einstweilen mit steinerner Miene weiter. So, als warte sie auf das, was kommen musste. Die Suada über die Sinnlosigkeit des Gebens an diese Figuren, die mit plakativ-ekelhaften Gebrechen und Geschwüren von skrupellosen Gangs in Europas Städten an strategisch günstigen Plätzen abgesetzt werden. Die Predigt über die Methoden, mit denen diese Bettler zum Betteln geprügelt würden. Das Klagelied über den Missbrauch des Mitleids von Menschen wie A. durch Leute, die keine Scheu hätten, auch die Ärmsten der Armen noch auszunehmen, auszubeuten und schlimmer zu behandeln, als Vieh auf dem Weg zum Schlachthof. Mit dem Unterschied, dass Krone & Co für sie keine Ombudsstellen einrichten. Weil alte, zahnlose und hinkende Greise und hässliche, ungewaschene, greinende Vetteln keine treuherzigen Kulleraugen haben.

Zufall

Aber ich schwieg. Weil ich perplex war. Und hoffte, dass das vielleicht Zufalls gewesen sei. Ein einzelner Bettler, der da einmal an einer Gürtelkreuzung sein Glück versuchte. Nur: Woher hatte A – die bedeutend öfter im Auto unterwegs ist – schon vor dem Auftauchen der Elendsgestalt gewusst, dass da jemand kommen würde? „Der ist seit ein paar Tagen hier,“ kam A. meiner Frage zuvor. „Es gibt mehrere von ihnen. Ich glaube, sie teilen sich Zufahrten und Spuren. Und obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist, wenn ich denen was gebe, fühle ich mich einfach scheiße, wenn ich da nur die Zentralverriegelung aktiviere.“

Natürlich habe ich dann, später, in der U-Bahn und in den Fußgängerzonen genauer geschaut: Waren da in den letzten Tagen und Wochen tatsächlich weniger Bettler unterwegs, als zuvor? Zeigte die so lange geforderte Vergraulung der organisierten Bettler also Wirkung? Aber war das Resultat wirklich mit dem Ergebnis des beliebten Junkie-Verjagens vergleichbar: das „Problem“ zog einfach anderswohin? Oder waren es neue, zusätzliche Bettler, die da seit neuestem auf Kreuzungen gestellt wurden? Oder hatten vielleicht wirklich nur ein oder zwei Bettler eine Marktlücke entdeckt?

Am Tag darauf saß ich wieder neben A. im Wagen. In einem anderen Eck von Wien. An einer großen Kreuzung stand plötzlich ein junger Mann in abgetragenen Sachen neben dem Fahrerfenster. Er hatte einen Packen Ansichtskarten in der Hand und zeigte abwechselnd auf die Karten und auf eine zerlumpte Frau, die mit einem Baby im Arm am Grünstreifen neben der Fahrbahn saß. Diesmal ließ A. das Fenster oben. Aber ich sah, dass ihr das nicht leicht fiel. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 19. November 2007)