Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte Thomas Rottenberg

Es war vor ein paar Tagen. Da war plötzlich Joseph Thema. Plötzlich und ohne Vorwarnung war er ins Gespräch geworfen worden. Obwohl die Fragestellerin gar nicht wusste, dass Joseph Joseph heißt. Oder geheißen hat. Denn Meerschweinchen werden nicht so alt, dass Joseph heute noch am Leben sein könnte. Aber Frau M., war die Fragestellerin sicher, würde mittlerweile doch wohl einen Nachfolger im Arm halten – obwohl es auch um Wiens oberste Meerschweinchenlobbyistin schon sehr lange sehr still sei.

Eigentlich wollte ich das Thema wechseln. Oder es vorüber ziehen lassen. Aber ich hatte die Rechnung ohne A. gemacht: Frau M und ihren Meerschweinchenstammtisch hatte sie schließlich gekannt. Nicht persönlich, aber doch als vaszierende Skurrilität am äußersten Rand der Relevanzscheibe dieser Stadt. Und auch wenn sie, A., sich heute kaum mehr wundere, wenn in unserem (journalistischen) Bekanntenkreis solche Figuren und ihre Marotten besprochen und bestaunt würden, sei sie damals eben noch nicht ganz so abgestumpft gewesen. Außerdem wäre Frau M. ja wirklich ganz besonders gewesen.

Meerschweinchenikone

Frau M. war nämlich das, was man heute im Superlativ-Mediengeschwurbel eine "Ikone" nennen würde. Oder eine "Top-Expertin". Damals, um die Jahrtausendwende aber genügte das Vokabel "Meerschweinchenlobbyistin": Frau M. lebte mit und für Meerschweinchen. Sie hatte ihre Wohnung meerschweinchengerecht umbauen und einrichten lassen, ließ ihr Lieblingsmeerschwein in Öl malen und hatte es – Joseph eben – immer mit dabei. Auf dem Markt durfte Joseph vorkosten, welchen Salat Frau M. kaufen würde. Im Kaffeehaus saß er auf ihrem Schoß. Und als Frau M. – nachdem sie durch den österreichischen Blätterwald gezogen war, dann bei diversen Talktanten auf der Couch (natürlich mit Joseph) der Sache der Meersau eine Lanze gebrochen hatte - zu TV-Shows nach Deutschland gerufen wurde, kam es sogar zum Eklat: Ein Fluglinie verweigerte Joseph den Schoß-Transport und wollte ihn in den Frachtraum verbannen.

Nebenbei vereinsmeierte Frau M auch. Sie hatte lange bevor ich sie kennen gelernt hatte die "Meerschweinchenfreunde Österreichs, Stammtisch seit 1994" gegründet und ein "Meerschweinchen ABC" herausgegeben. Doch weil ja auch der Beste nicht ohne Neider leben kann, spaltete sich da eine eigene Bewegung ab: Der "Verein der Meerschweinchenfreunde in Österreich" existiert sei 1995. Und setzte, als Frau M. immer öfter in den Medien zu finden war, auch selbst spektakuläre Aktionen.

Tanznager

A hatte die Ehre, an einigen dieser denkwürdigen Aktivitäten beobachtend teilzuhaben. So schleppte ich sie einst zum "ersten Meerschweinchenclubbing" in den dritten Bezirk. Die Veranstaltung fand im Anschluss an eine Meerschweincheninformationsveranstaltung statt – und als wir eintrafen, waren da nur mehr ein Tierarzt, seine zwei Gehilfen und drei ältere Damen: Die Info-Veranstaltung, erzählte man uns, sei regelrecht überrannt worden. Aber nun – die Veranstaltung hatte am Vormittag begonnen – seien die Meerschweinchen müde und von ihren Besitzern nach Hause getragen worden. Sie würden aber wiederkommen. Dann holten Tierarzt und Helfer die drei Meerscheinchen der alten Damen aus ihren Käfigen, nahmen sie auf den Arm und tanzten ein bisserl im ansonsten menschenleeren Veranstaltungssaal. Ich habe A. selten fassungsloser dreinschauen gesehen.

Kurz darauf ging man dann aber wirklich an die breite Öffentlichkeit: 2001 fand die erste Oldtimer-Tramway-Ausfahrt im Sinne des Meerschweinchenwesens statt. A. und ich standen in einer zugigen Remise und sahen zu, wie etwa 20 Menschen mit Meerschweinchen am Arm (oder in Käfigen) in eine Nostalgie-Bim kletterten, die sich dann rumpelnd und ratternd in einen kalten November-Wochenendnachmittag quälte. Der Grund der Ausfahrt war hochpolitisch: Die Meerschweinchenszene hatte beschlossen, einen "Tag des Meerschweinchens" zu proklamieren. Man hatte das auch schriftlich in diversen Ministerien angemeldet. Und um da so richtig Druck zu machen ("Immerhin gibt es auch einen Tag des Apfels", hatte Frau M. postuliert) – und um die Bevölkerung mit der Sache der Meersau zu konfrontieren - fuhr man jetzt mit der Straßenbahn durch Wien.

Danach, A. warf mir einen fast strafenden Blick zu, erlahmte aber mein Interesse an der Meerschweinchenszene. Aber auch die Lobbyisten von Stammtisch und Verein ließen es an Nachhaltigkeit mangeln: Ich hörte nichts mehr von Frau M, Joseph oder den anderen Meerschweinhaltern. Auch, ob der "Tag des Meerschweinchens" in das offizielle "Tag-des-Irgenwas"-Kalendarium aufgenommen wurde, erfuhr ich nie. Nun googelte ich aber nach: Die Homepage von Frau M. ist noch immer am Stand des Jahres 2001. Und beim Meerschweinchenverein gibt es zwar Informationen über aktuelle Meersau-Aktivitäten - der "Tag des Meerscheinchens" scheint da aber nicht auf. Dabei hatte man sich doch schon auf den 30.November festgelegt. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 22. November 2007)