Die Anzahl der Wissenschaftsjournale weltweit ist unbekannt. Man weiß jedoch, wie schnell ihr Wissen veraltet.

Foto: DER STANDARD/Hendrich
Wie schnell veraltet dieses neue Wissen? Die Wissenschaftsforschung weiß verblüffend wenig darüber.

*****

„Um diese Fragen seriös zu beantworten, bräuchte es ein Forschungsprojekt, das mindestens mit einer Million Euro dotiert ist.“ Gerhard Fröhlich, Wissenschaftsforscher aus Linz und einer der österreichischen Experten für die Vermessung der Wissenschaft, kann auch nicht weiterhelfen.

Dabei wollte der Standard doch nur wissen, was die Wissenschaft über den weltweiten Output an wissenschaftlichem Wissen weiß. Und wie lange es dauert, bis wissenschaftliches Wissen veraltet.

Was man bis ins kleinste Detail weiß und analysiert, sind all jene etwa 8700 Fachzeitschriften, die im sogenannten „Web of Science“– vormals: Science Citation Index – von Thomson Scientific aufgenommen sind. Von den dort erscheinenden Artikeln weiß man, wer die Autoren sind, woher sie kommen, wen sie zitieren, wie oft sie selber zitiert werden und alle anderen relevanten Details. Doch was ist mit all den anderen, kleineren und nicht-englischsprachigen Wissenschaftszeitschriften?

Sicher mehr als 8700

Einig sind sich die Wissensfachleute allenthalben noch darüber, dass es viel mehr Wissenschaftsjournale gibt als diese 8700. Aber um wie viel mehr, das ist einigermaßen unklar. Loet Leydesdorff, Wissenschaftsforscher aus Amsterdam, schätzt die zusätzliche Anzahl an Journals allein in China auf 5000. „Die finden sich ebenso wenig im Web of Science wie die meisten der Zeitschriften in Russland und Indien, die ebenfalls in die Tausende gehen dürften.“

Große Schwankungen

Die Wissenschaftsforscherin Ann Rudinow Sætnan von der norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie in Trondheim wiederum gibt zu bedenken, dass es ständige Neugründungen von Zeitschriften gäbe, andere würden ihr Erscheinen wiederum einstellen. Und in Zeiten der E-Journals und E-Print-Archive sei es gar nicht mehr so klar, was eine wissenschaftliche Zeitschrift überhaupt ist.

Gerhard Fröhlich wagt dennoch eine Schätzung: „Eine Zahl zwischen 50.000 und 100.000 an wissenschaftlichen Fachzeitschriften dürfte realistisch sein. Bei noch höheren Zahlen wird dann wohl jeder Newsletter einer Provinzgelehrtengesellschaft, Buchreihen und alles Mögliche mit eingerechnet.“

Was nach ziemlich viel klingt, unterbietet indes die Prognosen von Derek de Solla Price deutlich. Der 1983 verstorbene Mitbegründer der Szientometrie (also der Wissenschaftsvermessung) hatte Mitte der 1960er-Jahre hochgerechnet, dass bei einem weiterhin exponenziellen Wachstum man Anfang des 21. Jahrhunderts bei einer Million Fachblättern halten würde.

Seit dem Ende der Siebzigerjahre, auch darüber herrscht weitgehend Konsens, hat sich das bis dahin exponenzielle Wachstum der Wissenschaft in ein kontinuierliches verwandelt. Dennoch ist heute immer wieder von der Beschleunigung der Erkenntnisproduktion die Rede und der geringeren Halbwertszeit des Wissens. Ist wenigstens da was dran?

Der kanadische Informationswissenschafter Vincent Larivière ist dieser Frage in einem noch unveröffentlichten Aufsatz im angesehenen Journal of the American Society for Information Science and Technology (Band 59, Nr. 1, S. 1–9, 2008) nachgegangen. Mit Kollegen untersuchte er, wie sich das Alter der in naturwissenschaftlichen und medizinischen Fachartikeln zitierten Literatur seit 1900 veränderte, und wertete dafür die einschlägigen Datenbanken des Web of Science aus.

Seine Ergebnisse sind einigermaßen verblüffend: Seit Mitte der 1960er-Jahre hat das Durchschnittsalter der zitierten Fachliteratur nicht ab-, sondern vielmehr zugenommen.

Keine Beschleunigung

War in den Natur- und Ingenieurswissenschaften 1955 die zitierte Literatur im Schnitt gerade einmal vier, fünf Jahre alt, so betrug ihr Durchschnittsalter 2004 immerhin sieben Jahre. Und in der Medizin stieg das durchschnittliche Alter der Referenzen von 4,5 auf immerhin 5,5 Jahre. Keine Spur von Beschleunigung also. Etwas anders freilich sieht es in jenen wissenschaftlichen Gebieten aus, wo E-Print-Archive wie arXiv beliebt sind, also etwa in der Astro- und Teilchenphysik. Da scheint das Alter der zitierten Literatur tatsächlich zu sinken.

Wird dort das nicht mehr zitierte Wissen also früher obsolet? Ann R. Sætnan ist skeptisch: „Womöglich ist dieses nicht mehr zitierte Wissen so selbstverständlich, dass man es nicht mehr zu zitieren braucht. Und könnte es umgekehrt nicht auch den Fall geben, dass Wissen so umstritten ist, dass es gerade deshalb wieder zitiert wird?“

Fragen über Fragen also – „for further investigation“, wie es bei vielen wissenschaftlichen Texten am Ende so schön heißt. Am besten in einem Millionen-Euro-Projekt. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 5. Dezember 2007)