Am Anfang war die Pflegefamilie. In Michael Ondaatjes Roman Divisadero wird sie als Idyll einer heilen Kindheit vorgestellt, eine Farm in Nordkalifornien, bewohnt von Anna und ihrem Vater, der zwei weitere Kinder aufzieht: Claire, deren Mutter am gleichen (Geburts-)Tag gestorben ist wie jene Annas, und Coop, dessen Eltern der Nachbarhof gehörte, bevor sie ein Tagelöhner mit einem Holzscheit totschlug. Die drei Adoleszenten wachsen wie Geschwister auf, bis zu jenem Moment, da Coop Bartwuchs, ein Auto und Zugang zum örtlichen Nachtleben bekommt.

In der Logik von Divisadero kippt die Idylle mit dem Einbruch der Sexualität an jenem schneeverwehten Abend, als Coop und Anna, inzwischen ein Liebespaar, vom Vater ertappt werden. Von da an verlieren sich ihre Wege: Der halb totgeprügelte Coop zieht als einzelgängerischer Berufsspieler durch Kalifornien und gerät auf schiefe Bahnen, die zu weiterer Körperverletzung führen. Auch Anna reißt aus nach jenem katastrophalen Abend, der ihr "ganzes restliches Leben in Brand gesteckt hat"; sie wird Literaturwissenschafterin und geht für ein Forschungsprojekt nach Frankreich. Nur Claire, die für einen Armenanwalt in San Francisco arbeitet, wird noch an den Wochenenden zu ihrem Ziehvater zurückkehren, um dann gleich wieder auszureiten.

Für den aus Sri Lanka gebürtigen kanadischen Autor Michael Ondaatje, der in den 90er-Jahren mit der Romanvorlage für den Film The English Patient weltberühmt wurde, ist dies ein erstaunlich "westliches" Buch, das lediglich zwischen den USA und Frankreich pendelt. Fast scheint es, als wäre der interkulturelle Diaspora-Autor, der gerne mit Rushdi, Naipaul und anderen als postkolonialer Globalisierer schubladisiert und verkauft wurde, dieses Etiketts müde geworden.

Sein Roman endet konsequenterweise mit einer Schriftstellerepisode, wo Annas Forschungsobjekt, der fiktive südfranzösische Autor Lucien Segura, eine eigene Erzählperspektive zugestanden bekommt, wie vor ihm schon die drei Zufallsgeschwister. Ondaatje verwendet all diese Handlungsstränge zur Reflexion über das Wesen des Schreibens – erklärt sich doch die Methode des Romans schon aus seinem Titel: "Ich komme aus der Divisadero Street. Divisadero, abgeleitet von dem spanischen Wort división – Teilung, Trennung […]. Oder der Name leitet sich her von divisar, was bedeutet: ,etwas aus der Ferne betrachten.‘ […] Und das tue ich vermutlich mit meiner Arbeit. Ich halte in der Ferne nach denen Ausschau, die ich verloren habe, und so kommt es, dass ich sie überall sehe."

Stimmengeflecht des Verlustes

Es ist ein Stimmengeflecht des Verlustes, der ein Wiederfinden nur in der Literatur möglich macht, die gleichsam aus der Ferne blickt. Kurz bevor der Roman Anna zum Sprachrohr seiner Titelerklärung macht, fällt ein weiterer verräterischer Satz: "Wer die Geschichte mit den Augen einer Waise sieht, liebt die Geschichte." Literatur als Waisenhaus – und damit der Autor als Adoptivvater, ähnlich wie auch der Literaturwissenschafter (der Zivilberuf, den Ondaatje ebenso wie seine Protagonistin Anna ausgeübt hat)? "Ein paar Vögel fliegen in dieser Beinahedunkelheit so nahe wie möglich über ihr Spiegelbild", lautet der letzte Satz des Buches, der nichts wirklich verrät. In der Kritik wurde Ondaatjes Divisadero als "sonderbar", "eigenwillig", ja "geheimnisvoll" bezeichnet, wenn nicht gar als "Höhepunkt in seinem Schaffen" (NZZ). Dies mag damit zu tun haben, dass die Geschichtenblöcke eigenartig unvermittelt nebeneinanderstehen und nur durch ihre Figuren und Motive lose verbunden sind. Die Fixierung des Romans auf das "Unausgesprochene" (SZ) macht ihn undurchsichtig, reizvoll, setzt ihn aber auch gleichzeitig dem Vorwurf der postmodernen Beliebigkeit aus – ebenso wie die Fixierung auf die Welt der frankophilen Philologin und des beschädigten Berufsspielers eine eigentümliche Papierromantik verströmt. Den gestandenen Ondaatje-Leserinnen und -Lesern mag dies einerlei sein, denn sie sind wie der Autor auf jene eigentümliche Schönheit des perfekten Augenblicks aus und werden auf der Suche nach seinem Sinn den Roman wohl noch einmal lesen. (Clemens Ruthner, ALBUM DER STANDARD/Printausgabe, 05./06.01.2008)