Norbert Ceipek, Leiter des Krisenzentrums "Drehscheibe": "Das geht an die Substanz"

derStandard.at/Wittstock
Sie war zwölf, als zwei Serben vor ihrer Tür standen. Die beiden Männer boten ihren Eltern an, sie würden die Tochter aus dem abgelegenen Dorf in Bulgarien fort nach Österreich bringen, wo sie für sie arbeiten und gutes Geld verdienen würde. Etwa 3.000 Euro werden Vater und Mutter für die Vermietung ihrer Tochter kassiert haben: so viel, wie sie sonst in einem ganzen Jahr verdienten.

Die Eltern unterschrieben eine notariell beglaubigte Vollmacht. Das Papier, eine Einverständniserklärung, dass das Mädchen die Serben begleiten dürfe, wurde buchstäblich zum Kaufvertrag: als Eigentum der beiden Männer wurde sie vergewaltigt und zur Taschendiebin ausgebildet. Einige Jahre und an die hundert Vergewaltigungen später wurde sie von der Polizei erwischt: drei Monate Haft im steirischen Leoben. Als sich die Sicherheitstüren endlich wieder öffneten, warteten bereits die Serben auf sie.

Geschichten wie diese hat Norbert Ceipek zu Hunderten im Kopf. Als Leiter des Krisenzentrums "Drehscheibe" hat er immer wieder Kinder vor sich sitzen, die von Gewalt und Misssbrauch erzählen. In der "Drehscheibe" der Magistratsabteilung 11 landen Kinder, die von Schlepperbanden als Taschendiebe eingesetzt, und von der Polizei aufgegriffen worden sind. Wenn sich minderjährige Mädchen prostituieren und nicht ohne Stolz erzählen, sie hätten 80 Euro an einem Tag verdient - mehr als ihr Vater in einem ganzen Monat, dann "geht das an die Substanz", sagt der 57-Jährige.

Auf den Preis kommt es an

Maria, Teofilia, Jaroslawa oder Petia: Namen, wie sie in Ceipeks Unterlagen immer wieder auftauchen und ebenso austauschbar sind, wie die dazugehörenden Geschichten. Die beginnen an den äußersten Rändern der Europäischen Union. In Dörfern, wo Arbeitslosigkeit die Norm ist und Menschen auf den Bildern die die Satellitenschüsseln in die armseligen Wohnzimmer liefern, Luftschlösser bauen. "Mit Geld bekommt man dort praktisch alles", sagt Ceipek. Zwischen 3.000 und 15.000 Euro bezahlen Schlepper um rumänische und bulgarische Kinder für einige Monate zu mieten. Auch 150 Kilometer jenseits der österreichischen Grenze, in der Slowakei blüht der Handel mit Minderjährigen.

Das geplante Bettelverbot mit Kindern wird für diese Kinder voraussichtlich nichts ändern: "Sie sind strafunmündig und werden ohne die Begleitung von Erwachsenen auf die Straße geschickt", sagt Ceipek. Die Auftraggeber bleiben im Verborgenen.

Drehscheibe für Südosteuropa

Das Krisenzentrum "Drehscheibe" in der Wasnergasse im 20. Wiener Gemeindebezirk wurde 2001 vom Sozialpädagogen Ceipek eingerichtet. Damals stand man dem Phänomen Straßenkinder ratlos gegenüber zumal die Kinder von den Schleppern angehalten werden, bei den Behörden falsche Namen anzugeben und bei der ersten, sich bietenden Gelegenheit wegzulaufen. Ceipek verstärkte die Zusammenarbeit mit der Polizei und legte eine Datenbank an, wodurch es gelang, sie zu identifizieren. Mittlerweile werden die Kinder innerhalb von 48 Stunden in ihr Heimatland zurückgeflogen und in den dortigen Krisenzentren untergebracht.

2005 hat die Polizei in Wien 701 Kinder aufgegriffenen, 2006 waren es 300 - im vergangenen Jahr 69. "Wien ist seit einem Jahr die einzige Stadt Europas mit sinkenden Zahlen", sagt Ceipek. Dass liegt vor allem daran, dass es ihm und den bulgarischen und rumänischen Krisenzentren gelungen ist, den Kreislauf zu durchbrechen: früher wurden die Kinder sofort nach der Überstellung in ihre Heimat von den Schleppern abgeholt und zurück nach Wien gebracht. Mittlerweile werden sie solange betreut, bis eine Heimkehr in die Familie sicher ist. Sind die Kinder einmal von den Behörden identifiziert und erfasst, sind sie für Schlepper uninteressant.

Das Geschäft mit den Träumen

"Analphabeten und jene, die nie zur Schule gegangen sind, sind leicht zu rekrutieren". Ceipek erzählt von einer schwangeren 17-Jährigen Romni: die Schlepper hatten ihr eine Frisörlehre versprochen, ihr Baby würde in einem Kindergarten der rumänischen Community betreut werden. Kaum war sie in Österreich, wurden ihr Reisepass und Geld abgenommen, die junge Frau auf den Strich geschickt.

Derzeit stammen 90 Prozent der aufgegriffenen Kinder aus Rumänien, 80 Prozent davon sind Mädchen. Das Problem sei, dass Roma keine Roma anzeigen, sagt Ceipek. Die Clans sind untereinander durch Heirat verbunden und kreuz und quer über Europa verteilt. Setzen sich einzelne Roma zur Wehr, werden sie von der Community verstoßen und enden am Rand der Gesellschaft.

Kinder als Faustpfand

Der Kinderhandel liegt vorwiegend in den Händen von Romabanden. Deren Vorgehensweise ist simpel und effizient: Eltern werden Kredite gewährt, können sie ihre Schulden nicht begleichen, dienen ihre Kinder als Faustpfand. Sie gehen für einige Monate in den Besitz der Schlepper über um die Schulden der Eltern abzuarbeiten, sagt Ceipek. Die Schlepper bezahlen den Reisepass, bringen die Kinder nach Österreich, wo sie bei Aufpassern in Sammelquartieren untergebracht sind.

Der Tagesablauf ist streng geregelt: um 7 Uhr 30 werden sie in Dreiergruppen zum Stehlen auf die Straßen geschickt. Die Gruppen bestehen üblicherweise aus zwei Sieben- bis Zehnjährigen und einem zwölf- oder dreizehnjährigen Mädchen. 300 bis 350 Euro müssen sie täglich zusammenbekommen. Erreichen sie das Soll nicht, wird die Älteste zur Prostitution gezwungen. Die Banden verfügen über Kontakte zur Pädophilenszene und die Mädchen werden tageweise vermietet. Der Missbrauch findet in Privatwohnungen statt.

Rumänen rüsten für die EM 2008 auf

"Aufklärung und Prävention in den Herkunftsländern sind der einzige Ausweg", sagt Ceipek. Im Fall von Bulgarien sei dies bereits gut gelangen. Stammten 2005 noch 605 von 701 aufgegriffenen Kinder aus Bulgarien, waren es 2007 nur noch zwei von 69. Ausschlaggebend für den Erfolg ist die enge Zusammenarbeit mit ansässigen Romaorganisationen und dem bulgarischen Sozialministerium. "Die Vereinbarung lautet: sie kümmern sich um die Kinder und wir kontrollieren. Das funktioniert relativ gut", erzählt Ceipek, dessen Einrichtung 2006 mit dem französischen Innovationspreis "Prix Territoria Europe" ausgezeichnet wurde. Das Selbe müsse nun auch mit Rumänien gelingen.

Seit einigen Monaten landen immer mehr rumänische Kinder in der "Drehscheibe". Der Grund: die bevorstehende Fußballeuropameisterschaft. Die Kinder kommen im Schlepptau der Einbrecher und Taschendiebe ins Land. Deren Vorbereitungen für die EM laufen auf Hochtouren und sie stecken schon jetzt ihr Terrain für den kommenden Sommer ab.(11.01.2007, derStandard.at, Birgit Wittstock,)