Weltweit erfolgreich: Cristian Mungiu, geboren 1968 in Iasi im Nordosten von Rumänien (in der Provinz Moldau). Studium der englischen Literatur in Iasi, Arbeit als Journalist und Lehrer. In den 90er Jahren Filmstudium in Bukarest. Er gewann 2007 die Goldene Palme in Cannes für "Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage."

Foto: Filmladen

Wunsch nach Abtreibung in einer Ära der Heldenmütter und in einem selbsternannten Paradies für Kinder: Annamaria Marinca als Hilfestellerin in Cristian Mungius Film "Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage".

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Jetzt kommt der prämierte Film auch in Österreich regulär ins Kino. Bert Rebhandl führte dazu mit dem Regisseur folgendes Interview.


Wien – Cristian Mungiu ist im Moment nicht leicht zu erreichen. Im Mai des vergangenen Jahres hat er für seinen Film "Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage" die Goldene Palme gewonnen. Seither reist er von einer Einladung zur nächsten, in mehr als 60 Ländern soll es einen Kinostart geben, die Anstrengungen der Promotion sind jedoch lohnend.

Die Geschichte von Otilia, die in Rumänien im Jahr 1987 für eine Freundin eine illegale Abtreibung organisiert (siehe Rezension weiter unten), hat das Format eines neorealistischen Klassikers. An dem Tag, an dem das Interview stattfinden sollte, musste Cristian Mungiu überraschend in die USA fliegen – die Fragen hat er dann doch noch beantwortet, per E-Mail von unterwegs.


Standard: Warum haben Sie sich entschlossen, einen Film über eine Abtreibung zu machen? Liegt Ihnen dieses Thema aus moralischen Gründen am Herzen?

Mungiu: Ich versuche, Dinge zu machen, die sich nicht leicht einordnen lassen. Deswegen ist dieser Film so anders als mein erster ("Okzident", 2002). Ich habe mich häufig durch Humor ausgedrückt und erzähle gerne Geschichten, die einander "kreuzen". Ich weiß aber auch, dass ich andere Sachen kann, und mit diesem Film habe ich mir das bewiesen.

Standard: Stilistisch könnte man von Anleihen beim Neorealismus sprechen: Eine Person geht durch einen Tag, muss zahlreiche Hindernisse aus dem Weg räumen, die Kamera bleibt beobachtend auf Distanz, der Effekt ist jedoch in hohen Maße identifikatorisch.

Mungiu: Ich möchte nicht für einen bestimmten Stil stehen. In diesem Fall hat es für den Film gepasst, dass wir etwa mit Breitwand-Format gearbeitet haben. Das muss von Fall zu Fall entschieden werden. Außerdem kommt es immer sehr darauf an, wann der Film spielt. Wir werden jetzt noch einen Film machen, der auch in der Zeit des kommunistischen Regimes spielt. Ich bin aber auch ein wenig ungeduldig, endlich zu zeigen, dass auch unsere Zeit interessante Themen hat und ich nicht an einer Art Nostalgie leide.

Standard: Es ist ein wenig überraschend, dass Abtreibungen in Rumänien verboten waren. In der DDR zum Beispiel war das anders.

Mungiu: Ja, seit Mitte der 60er-Jahre waren sie verboten. Das hat mit der seltsamen Ideologie des Landes zu tun. Es war von Heldenmüttern die Rede, also Frauen, die mehr als fünf Kinder bekommen hatten. Es sollte ein Paradies für Kinder sein. Auf der anderen Seite hat man Frauen ihre Kinder weggenommen und sie in staatliche Heime gesteckt. Es gibt da so viele Geschichten aus meiner Heimat noch zu erzählen. Wie ich gerne sage: Bis zum Jahr 1989 waren wir wie weggeschlossen – wie auf einem anderen Planeten.

Standard: Wie kam das Drehbuch zustande?

Mungiu: Der Fall selbst hat sich mehr oder weniger so ereignet, wie ich es erzähle, in meinem Bekanntenkreis, tatsächlich vor zwanzig Jahren. Ursprünglich ging ich von einem Film über zwei Mädchen aus. Bei der Hälfte wurde mir aber klar, dass es vor allem um ein Mädchen geht. Diese Figur ist die einzige, die begreift, was mit ihr geschieht, die Entscheidungen trifft, während die anderen alles nur über sich ergehen lassen. Daraufhin habe ich das Drehbuch noch einmal aus der subjektiven Perspektive von Otilia geschrieben.

Standard: Der Film ist sehr finster – ist das metaphorisch oder realistisch zu verstehen?

Mungiu: Wir wollten die Atmosphäre so genau wie möglich an die damalige Zeit anpassen. Dabei hat sich herausgestellt, dass das fast durchgehende Gegenlicht sich am besten dafür eignete.

Standard: Einprägsam ist vor allem eine lange Szene, in der Otilia bei einer Geburtstagsparty in der Familie ihres Freundes wie gefangen ist.

Mungiu: In meiner Perspektive geht es darin auch um die sozialen Klassen im Kommunismus und um den subtilen Einfluss von Propaganda in unserer Erziehung. Wir glauben, dass wir dagegen immun sind, wenn wir aber mit unseren Freunden über dies und jenes reden, dann verwenden wir – unbewusst – ganz ähnliche Argumente wie die des Regimes.

Für Otilia ist diese Szene auch ein Blick in die Zukunft. So würde ihr Leben aussehen, wenn es nach Plan verliefe. Ein konformistisches Leben. Diese Familie besteht aus netten, normalen Leuten, die aber aufgegeben hatten, gegen das System zu kämpfen. Sie haben sich angepasst. Ob das ein faulen Kompromiss ist, weiß ich nicht – so war es eben.

Standard: Wie war das Drehen dieser langen Einstellung?

Mungiu: Es war sicher die schwierigste Szene. Anfangs hatte ich zu den Schauspielern nur gesagt, sie sollten alle gleichzeitig sprechen, aber das erwies sich natürlich als Unsinn. Es wurde dann beinahe zu einer Choreografie: zehn Schauspieler, die alle ihren Text lernen mussten und dazu genau aufeinander abgestimmte Bewegungen, das alles mehr als zehn Minuten ohne Unterbrechung – Sie können sich vorstellen, dass da eine Menge schiefgehen kann. Wir haben fünf Tage daran gearbeitet und siebzehn Aufnahmen davon gemacht.

Es geht darin um eine Figur, die nicht da sein möchte und im Geist an einem anderen Ort ist. Sie ist extrem einsam, sie kann von ihren Sorgen nicht sprechen. Erst als ich das ausreichend begriffen hatte, kamen wir von einer Kameraposition ab, die alles ein wenig wie das letzte Abendmahl Jesu aussehen hätte lassen.

Standard: Wie ist derzeit die Lage des rumänischen Kinos?

Mungiu: Wir machen in der Regel acht bis zwölf Filme im Jahr, mit einem Budget von jeweils 500.000 bis 700.000 Euro. Sie werden vom Nationalen Zentrum für Kinematographie produziert. Es gibt einen Drehbuchwettbewerb, der Sieger bekommt die Hälfte seines Budgets, maximal 350.000 Euro. Das größte Problem ist die Auswertung. Es gibt in Rumänien nur 35 Kinos für 20 Millionen Menschen.

Das kommerzielle Fernsehen ist explodiert, an diesem Unterhaltungsschock laboriert das Land. Deswegen bin ich mein eigener Kinobetreiber geworden. Ich organisiere selbst Vorführungen in größeren Städten, in denen es keine Kinos gibt. Einiges vom Geld, das der Film international einspielt, gebe ich dafür aus. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.1.2008)

---> Hinein in die dunkle Nacht in Bukarest
Über Cristian Mungius Meisterwerk

Hinein in die dunkle Nacht in Bukarest
Über Cristian Mungius Meisterwerk

Wien - Rumänien im Jahr 1987: Die Bedingungen im kommunistischen Land unter der Herrschaft von Nicolae Ceauscescu sind heute nur noch schwer nachzuvollziehen - "wie die Tiere" wurden die Menschen gehalten, hat Cristian Mungiu einmal gesagt. In seinem Film "Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage" zeichnet er nach, wie sich die Leute zu helfen versuchten.

Es gab einen Schwarzmarkt für die wichtigsten Güter, eine Schachtel Kent-Zigaretten konnte viele Türen öffnen. Auch für Abtreibungen gab es einen Schwarzmarkt - davon handelt die Geschichte des Films. Die Studentin Gabita ist im vierten Monat schwanger, es ist hoch an der Zeit, etwas zu unternehmen. Mit ihrer Freundin Otilia nimmt sie Kontakt zu einem "Engelmacher" auf.

Mungiu setzt mit seiner Erzählung am Morgen des entsprechenden Tages ein und konzentriert sich dann immer stärker auf Otilia (Anamaria Marinca), die es auf sich nimmt, die Sache zu organisieren. Sie reserviert ein Hotelzimmer, fährt in die Vorstadt, um den unangenehmen Mann abzuholen, dem sie und Gabita sich auf Gedeih und Verderb ausliefern, sie bringt ihn zum Hotel, muss zwischendurch zu einer Party bei den Eltern ihres Freundes - und so geht es immer weiter in die dunkle Nacht in Bukarest.

Die endlosen Komplikationen, die nicht zuletzt aus dem Misstrauen und dem Zwang zu Übervorteilung erwachsen, die in einem totalitären Staat zwischen den Menschen herrschen, geben dem Film eine Spannung, die auch ein Sinnbild für das Leben in der Diktatur wird. Die Einsamkeit, die Otilia umgibt, straft alle kollektivistischen Hoffnungen Lügen. Es gibt, gerade weil das System auch die zivilgesellschaftlichen Strukturen unterwandert, keine Instanz, an die eine junge Frau sich wenden kann.

Nach Cristi Puius ebenbürtigem "Der Tod des Herrn Lazarescu" hat das rumänische Kino einen weiteren Höhepunkt zu verzeichnen - eine Generation von Filmemachern scheint plötzlich Freiheit zu atmen. (reb / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.1.2008)