Das "Times Magazine" kürte "Fun Home", Alison Bechdels autobiografischen Comic-Roman über die triste Kindheit im Bestattungsunternehmen ihrer Eltern in Pennsylvania, zum "besten Buch des Jahres". Für den deutschen Sprachraum entdeckte es Literaturkritiker Denis Scheck.

Abbildung: Kiepenheuer & Witsch
Abbildung: Kiepenheuer & Witsch
Wien – Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. Kürzlich wurde Alison Bechdel bei sich zu Hause in Vermont von einem deutschen Kamerateam besucht, das in ihre Privatsphäre eindrang, um eine Homestory über sie zu drehen. Die Comic-Zeichnerin schnappte sich ihre Digitalkamera, filmte ihrerseits die Journalisten bei der Arbeit und stellte das Video unter dem Titel "German Invasion" auf YouTube.

Dykes To Watch Out For ("Lesben, vor denen man sich in Acht nehmen sollte"): So heißt die Cartoon-Serie, die Bechdel seit 1983 zeichnet und die in den USA in diversen schwul-lesbischen Medien abgedruckt wird. Ihr bis dato größter Erfolg und das Crossover zur sogenannten Hochkultur samt Eintrag in der New York Times-Bestsellerliste gelang der 47-Jährigen jedoch 2007 mit dem "Familiy Tragicomic" (so der Untertitel) Fun Home, einem autobiografischen Comic-Roman über ihr Heranwachsen in einem kleinen Ort in Pennsylvania.

Fun Home heißt das Buch, lustig zugegangen ist es in Bechdels Kindheit dabei weniger. Der Titel ist ihre flapsige Abkürzung für "Funeral Home". Ebenjenes örtliche Bestattungsunternehmen führten ihre Eltern. Noch gruseliger als die omnipräsenten Leichen empfanden Alison und die Geschwister die Gefühlskälte ihres pedantischen Vaters, der nur seine Möbel und Bücher mit Liebe behandelte ("Er war ein Ass der Äußerlichkeit, ein Genie der Gediegenheit, ein Daedalus des Designs").

Erst als sie aufs College nach New York gegangen war, erfuhr Alison von ihrer Mutter, dass das aristokratische Auftreten ihres Vaters Fassade war. Dahinter verbarg sich ein gebrochener Mann, der junge Männer liebte, ohne dies offen ausleben zu können. Zu einer Aussprache mit der Tochter, die just zu der Zeit selbst ihre Homosexualität entdeckte, kam es nicht mehr. Vater Bechdel lief 1980 beim Überqueren einer Straße in einen Lkw. Die Familie vermutet, er habe Selbstmord begangen.

Mit der Erzählform der "Graphic Novel" und einfachen, aber aussagekräftigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen hat Alison Bechdel die passende Form für ihre Geschichte gefunden, die sie vermutlich nur so erzählen konnte. Die Comic-Form schwächt ein wenig ab, was der Leser an dieser Familientragödie sonst womöglich allzu bedrückend gefunden hätte, und bringt Humor ins Spiel. Diese Art von tröstlicher Leichtigkeit wäre in einem Roman nur schwer zu erreichen gewesen.

Die US-Medien waren jedenfalls begeistert. Das Time Magazine erklärte "Fun Home" kurzerhand zum "besten Buch des Jahres", wohlgemerkt nicht am Comic-Sektor, sondern überhaupt. Gelobt wurde reihum, von der New York Times ("eine Pioniertat") über Publishers Weekly bis zum Online-Kulturjournal salon.com.

Comic als Literatur

Dieser Tage erscheint Fun Home nun, mit dem hübschen Untertitel "Eine Familie von Gezeichneten" versehen, in deutscher Übersetzung. Als Entdecker fungierte einmal mehr der literarische Agent, Übersetzer und TV-Leseonkel (druckfrisch) Denis Scheck, ein ausgewiesener Kenner der US-Literaturszene. Ob das Buch hier ebenso positiv aufgenommen wird wie in den Staaten, ist allerdings längst keine ausgemachte Sache.

Man muss nur Gero von Wilperts Studenten der Germanistik bis heute als Standardwerk empfohlenes Sachwörterbuch der Literatur aufschlagen. Dieses definiert Comics als "die unterste, ästhetisch, literarisch und gehaltlich mangelhafte Stufe der Bildergeschichte [...]."

Obwohl seit der ersten Popliteratur-Welle in den 1960ern und Rolf Dieter Brinkmanns legendärem Reader Acid in puncto Annäherung zwischen literarischem Mainstream und queerer Gegenkultur einiges passiert ist, bedürfen Comics offenbar nach wie vor einer Rechtfertigung.

Es sind Arbeiten wie die Bechdels, die dazu beitragen, dass sich das spät, aber doch ändern könnte. In seinem Kern ist Fun Home nämlich nichts anderes als eine Bildergeschichte über die Kraft der Literatur. Die Figuren darin halten ihre Nase ständig in Bücher (Fitzgerald, Camus, Joyce, Proust, Wilde, Sappho), kommunizieren über ihre Lektüre, ja mitunter wird sogar ihr Handeln dadurch begründet.

Auch wenn die intertextuellen Bezüge streckenweise etwas überstrapaziert werden und die Handlung eher bremsen, geht die Rechnung am Ende auf. Homosexueller Comic plus hochgeistige Literatur ergibt hier mehr als die Summe der einzelnen Teile, schließlich profitieren beide Bereiche voneinander.

Für die Lektüre von Fun Home ist es zudem gleichgültig, ob der Leser Comics mag und gleichgeschlechtliche Neigungen verspürt – oder eben nicht. Man folgt dieser Geschichte so oder so gern, leidet mit, lacht und weiß am Ende vielleicht ein bisschen mehr als zuvor. Ecce: das gute Buch. (Sebastian Fasthuber, DER STANDARD/Printausgabe, 13.02.2008)