Auch Teil des Mikrokosmos an der "Rubljovka": Nikas Safronov, Porträtist der Reichen und Mächtigen.

Foto: Filmladen

Wien – Die Rubljovka – das sei "eine Insel im Land mit eigenen Regeln", heißt es im gleichnamigen Dokumentarfilm: eine rund 30 Kilometer lange, zweispurige Landstraße, die nach Moskau führt. Und eine Gegend, in der sich neben alteingesessenen und nicht immer wohlhabenden Anwohnern seit den 1990er-Jahren vermehrt jene angesiedelt haben, denen zu ihrem neuen Reichtum eine standesgemäße Adresse fehlte. Denn an der Rubljovka residieren nicht nur Familien mit klingenden Namen wie Schostakowitsch oder Rostropowitsch – auch Wladimir Putin hat seinen Wohnsitz dort.

Regisseurin Irene Langemann, gebürtige Russin, die 1990 in die Bundesrepublik Deutschland emigrierte, stieß 2004 in einer russischen Zeitung auf einen Artikel über diese "goldene Oase des Landes". Rasch entwickelte sich die Idee, die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrer Heimat mit dieser "Straße der Superlative" zu verknüpfen.

Die Rubljovka, sei schließlich, so Langemann im Gespräch mit dem Standard, schon immer eine "privilegierte Gegend" gewesen: "Es gab den Erlass von Ivan dem Schrecklichen, dass in dieser Gegend keine Industrie angesiedelt werden durfte. Deshalb ist das ökologisch gesehen die sauberste Gegend in der Nähe von Moskau. Der russische Adel hatte dort seine Sommerresidenzen, die Bolschewiki und Stalin ihre Datschen. Als der neue Geldadel in den 90er-Jahren dorthin kam, war das eine sehr prestigeträchtige Gegend. Man wollte zu dieser Elite dazugehören. Insofern ist das eine einzigartige Situation. Aber die Entwicklungen dort spielen sich zugleich auch in ganz Russland ab."

Langemanns beziehungsreich montierter Film zeigt folglich einen Mikrokosmos voller Gegensätze und paradoxer Überlagerungen: Die Milliardäre, die sich dort um zweistellige Dollarmillionenbeträge einkaufen, orientieren sich an der Architektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Gebaut werden ihre Residenzen von Gastarbeitern aus den ehemaligen Sowjetrepubliken.

"Gleicher" als andere

Quasi nebenan wohnt eine alte Frau, die vom Verkauf selbstgemachter Besen lebt. Fließwasser hat sie in ihrem Holzhäuschen keines, dafür haben die neuen Nachbarn alle Swimmingpool. Der zwölfjährige Sohn eines Dekonstruktivisten erweist sich als pointiertester Analyst der bestehenden Verhältnisse. Und nur einer ist "gleicher" als die anderen: Wenn die Putin-Kolonne über die Rubljovka donnert, müssen auch die superreichen Motoristen warten.

Dabei war der Regisseurin wichtig, sich von den "vulgären Klischees" abzusetzen, mit denen man die russischen Neureichen im Westen gerne inszeniert: Langemanns Interesse gilt mehr den neuen gesellschaftlichen Typen, die die letzten Jahrzehnte hervorgebracht haben, wie etwa den Selfmadefrauen. Eine von ihnen hatte im Nachhinein versucht, die Veröffentlichung des Films zu behindern. Bereits während des Drehs sah sich das Team immer wieder Behördenwillkür ausgesetzt. Auch eine nicht zu übersehende Polizeipräsenz gehört zur Rubljovka, Langemann blendet den politischen Hintergrund ihres Gesellschaftsporträts nicht aus.

Ihr momentaner Befund fällt eher pessimistisch aus – ein Großteil der Bevölkerung beziehe seine Informationen ausschließlich aus dem staatlich kontrollierten Fernsehen, "die politischen und gesellschaftlichen Strukturen werden immer autoritärer, mich erinnert sehr vieles an die Sowjetzeit". Trotzdem plant die Regisseurin, auch weiter Filme in und über Russland zu machen. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22.2.2008)