Grafik: DER STANDARD

Einst strategischer Außenposten, profitiert das Castello noch heute von seiner Lage - und die Gäste von der Aussicht auf die Dolomiten.

Foto: Flavio Faganello
Foto: Emil Bosco

Unsere Vorfahren waren klug. Sie lebten auf unzugänglichen Felsen, wo sie vor Feinden und Fluten sicher waren. Wenn es ihnen heute jemand gleichtut, so hat er einen ganz anderen Grund: Er will der Hektik entkommen, die sich in den Niederungen der Zivilisation ausgebreitet hat. Verena Neff und Theo Schneider hatten jedenfalls die Nase voll. Die Übersetzerin und der Architekt fühlten sich von ihren Berufsalltagen zunehmend aufgerieben. Als sich ihnen dann vor siebzehn Jahren eine einmalige Gelegenheit bot, schlugen sie zu: Sie übernahmen eine der urtümlichsten Burganlagen des Trentino und mit dieser einen Hotel- und Restaurantbetrieb. "Kein Ausstieg", betont Theo Schneider, "sondern ein Neu-Einstieg." Weder er noch sie hatten jemals im Gastgewerbe gearbeitet.

Das Castel Pergine beeindruckt im Winter. Foto: Gianni Zotta
Foto: Gianni Zotta

Ein Aufstieg war dies vor allem in topografischer Hinsicht – aus dem Zürcher Unterland auf die Spitze des markanten Tegazzo-Hügels, der die ganze obere Valsugana beherrscht. Wer am Bahnhof von Pergine aus dem Zug steigt, sieht das Castello weltfern über den Häuserdächern schweben und fragt sich, wie man dort hinaufkommen soll. Vom hübschen Städtchen führen nur ein paar steinige Wanderwege hinauf. Autofahrer haben es natürlich bequemer, müssen aber einen großen Umweg machen, um das kleine Teersträßchen zu finden, das sich in schwindelerregenden Kehren nach oben schraubt.

Wer endlich vor dem Gemäuer steht, atmet zuerst einmal tief durch: Ein strahlender Herrscherpalast war das Castello nie. Als strategischer Außenposten der Tiroler Grafen genügte ein schlichter Zweckbau mit dicken Mauern drumherum. Im frühen 16. Jahrhundert residierten hier dann die Hauptleute des Trientiner Fürstbischofs, die das düstere Ensemble zu einer etwas komfortableren Wohnburg umbauten. Den spröden Charme hat es noch heute.

So ist Verena Neff froh, dass es wenigstens in der deutschen Sprache den Unterschied zwischen Burg und Schloss gibt. Sie will ihren Kunden nämlich nichts vormachen. Ein Drittel ihrer Gästezimmer hat weder Dusche noch Toilette. Die Italiener, auf die die beiden Autodidakten zunächst gesetzt hatten, rümpfen da die Nase. Ohne TV, Bad und Bidet geht da gar nichts. Kaum verwunderlich, dass sich vor allem deutschsprachige Gäste auf das unzeitgemäße Komfortniveau einlassen – und einige unverdrossene Amerikaner, Australier und Japaner. Im englischsprachigen Raum sei man in einigen "schrägen" Reiseführern verzeichnet, sagt Theo Schneider grinsend, "zu 99,9 Prozent kommen genau die richtigen Gäste" – Gäste, die die Authentizität des Ortes ebenso zu würdigen wissen wie die exquisiten Viergangmenüs der Halbpension. Es seien gebildete und weltoffene Leute, denen internationale Standards gestohlen bleiben könnten. "Wir haben zwar nur einen Stern, aber hundert Monde", erklärt Verena Neff scherzend die große Beliebtheit des Castello – einen für die hausgemachte Schokoladetorte, einen für den sonnigen Garten im Innenhof und einen weiteren für den friedfertigen Schlosshund Poldo, einen russischen Terrier mit erstaunlichem Stockmaß.

Mondverdächtig sind auch einige der rustikalen Zimmer. Man hat sie im Prinzip so belassen, wie sie vor hundert Jahren im einstigen Pferdestall eingerichtet worden waren – mit knarzendem Himmelbett, altertümlichen Einbauschränken aus Holz und großen, halbrunden Panoramafenstern. Noch archaischer wirkt der kubusförmige Palas. Schon beim Betreten der steingepflasterten Vorhalle, des einstigen Waffensaals, ist man überwältigt. Im Zentrum des die natürliche Hangschräge aufnehmenden Raums steht ein mächtiger achteckiger Mittelpfeiler, von dem das Kreuzgewölbe ausgeht.

Über eine Wendeltreppe erreicht man den als Café und Leseraum verwendeten Rittersaal, in dem ebenfalls eine achteckige Riesensäule aus rotem Kalkstein den architektonischen Blickfang bildet. Im Unterschied zu den meisten Rittersälen hat dieser jedoch überhaupt nichts Düsteres. In holzgetäfelten Fensternischen sitzend, genießt man einen fantastischen Blick auf die sich in der Ferne auftürmenden Brentadolomiten – und schaut doch meistens nach innen: in einen der schönsten und vollkommensten Räume der oberitalienischen Gotik.

Es beeindruckt aber auch im Sommer. Foto: Gianni Zotta.
Foto: Gianni Zotta

Mindestens fünf weitere Monde verdient das Castello für die Omnipräsenz zeitgenössischer Kunst. Jedes Jahr wird ein renommierter italienischer Künstler eingeladen, währende der siebenmonatigen Öffnungszeit Skulpturen und Installationen in den Burghöfen zu zeigen und auch die prominentesten Innenräume zu gestalten. Die Ausstellung wird zwar von Provinz und Stadt mitfinanziert, verschlingt aber einen Großteil der Einnahmen aus Hotel und Restaurant. Sie reichen dem eigenwilligen Pärchen gerade für die fünf Monate im Winter, in denen sie das Burgtor hinter sich verschließen. "Geld bedeutet uns nicht wirklich etwas", sagt Verena Neff. Kein Wunder, dass sie während der Saison nicht von Snobs und Neureichen umgeben sein will. Die bizarre Mixtur von erstklassiger Küche und drittklassigem Komfort rettet die beiden Einsiedler vor dem Angriff des Geldadels – und der Sintflut des Massentourismus. (Gerhard Fitzthum/DER STANDARD/Rondo/7.3.2008)