Alle Beschreibungen und Einschätzungen von Gruppen wie jener, die in Nordafrika zwei Österreicher entführt hat, sind nur Momentaufnahmen: Wenn sie präsentiert werden, können sie bereits überholt sein. Man kann immer nur beschreiben, wie sich eine Gruppe bisher verhalten hat, wenn sie sichtbar geworden ist.

Für die ehemalige "Salafistengruppe für Predigt und Kampf" (SGPC), seit 2006 "Al-Kaida im Islamischen Maghreb", hat gegolten, dass sie Entführungen quasi als Geschäftszweig, zur Geldbeschaffung, durchführte: Besonders das Großkidnapping von Touristen in der algerischen Wüste von 2003, von dem auch Österreicher betroffen waren, war ein gutes Beispiel dafür. Deshalb konnte man jetzt davon ausgehen, dass die Gruppe neues Geld braucht und gleichzeitig ihren erweiterten Aktionsradius - nach eigener Aussage in Tunesien - demonstrieren will.

Die jetzt aufgetauchte politische Forderung nach Freilassung von militanten Islamisten aus tunesischen und algerischen Gefängnissen, so beängstigend sie mit dem begleitenden Ultimatum auch ist, muss nicht unbedingt ein Abgehen davon sein. Im besten Fall wollen die Entführer den Preis hochtreiben. Denn auch wenn solche Gruppen sich ihre Welt, von der sie in ihren geschlossenen Systemen meist wenig wissen, selbst zurechtzimmern: Die Annahme, dass der Staat Österreich, an den die Maghreb-Kaida Forderung und Ultimatum richtet, die Freilassung von Häftlingen in Tunesien und Algerien bewirken könnte, erscheint konstruiert.

Abtun kann man die Gefahr aber deswegen nicht: Wie und warum strategische oder taktische Entscheidungen getroffen werden, die zur Tötung von Geiseln führen, ist völlig unkalkulierbar. Da entscheidet ein "Emir" einer Gruppe, dass das jetzt notwendig und nützlich sei, und dann passiert das auch.

Für Österreich stellt sich die Frage, ob ein Staat sich von Entführern erpressen lassen soll, in diesem Sinne gar nicht: Denn das Geforderte kann es nicht leisten. Nützlicher als starke Sprüche wäre im Moment jedoch, das Unvermögen, für das man sich nicht genieren muss, auch nachdrücklich und glaubhaft zu kommunizieren. Für den Fall, dass die Maghreb-Kaida Österreich wirklich so sehr überschätzt.

Aber auch die Frage, was ein Staat von seinen Prinzipien aufgeben darf, um eines oder mehrerer seiner Bürger willen, könnte eines Tages in solchem Zusammenhang an Österreich gestellt werden: Was, wenn die Entführer versucht hätten, "unsere" zwei soeben verurteilten Islamisten freizupressen? So wenig wir sie vermissen würden, und so unwichtig es im Grunde genommen ist, ob diese beiden Trivialmilitanten nun im Gefängnis sitzen oder nicht.

Bleibt das Thema Lösegeld: Es ist ziemlich genau bekannt - und vor allem Entführer wissen es -, welche Staaten zahlen und welche nicht. Wobei ein Staat umso eher nicht zahlen wird, desto "politisch wertvoller" seine Bürger für Entführer sind: Der klassische Fall sind die USA und Großbritannien im Irak, die glaubhaft versichern, nie Geiseln zurückzukaufen. In diesem Sinne können es sich andere Länder eher leisten (damit ist nicht die finanzielle, sondern die politische Leistbarkeit gemeint), Lösegeld zu zahlen.

Wahr ist aber auch, dass, wenn es um den bloßen Geschäftszweig Entführungen geht, es dadurch sehr wohl "bessere" Opfer gibt - und dazu gehören Deutsche und Österreicher. Daraus zu konstruieren, dass die Entführer in der nordafrikanischen Wüste auf die Jagd nach deutschsprachigen Touristen gegangen sind, wäre dennoch übertrieben. Die sind in Tunesien keine rare Spezies. Italiener hätten die Kidnapper gewiss ebenso gerne genommen, auch Rom zahlt.

Die Forderung, kein Land möge mehr zahlen, wird immer wieder erhoben. Das klingt logisch. Aber: Wenn von einer Gruppe Entführter einer nach dem anderen umgebracht würde, dann sähe die öffentliche Meinung schlagartig anders aus. Das können nur Regierungen durchstehen, die noch nie gezahlt haben. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 15.3.2008)