Ausblick und Einblicke liegen oft nahe beisammen. Die Regisseurin Li Yu erzählt in "Lost in Beijing" eine offene und wandlungsreiche Geschichte - China belegte sie dafür mit zwei Jahren Berufsverbot.

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Wien - In Peking haben Wolkenkratzer Konjunktur. Aber die gläsernen Fassaden halten sich nicht von alleine sauber: An Seilen hängen schwindelfreie Männer vom Lande und sorgen dafür, dass der Blick nach draußen ungetrübt bleibt. Zugleich erlaubt ihre Position ungehinderte Einblicke nach drinnen. Und so wird An Kun (Tong Dawei) eines Tages Zeuge von etwas, das ihm nicht gefällt.

Aus seiner Perspektive sieht es so aus, als vergnüge sich hinter der Scheibe seine Ehefrau Ping Guo (Fan Bing Bing) mit ihrem Boss (Tony Leung). Ping Guo ihrerseits hat vorher mit einer Freundin einen über den Durst getrunken und sich halb bewusstlos in Lin Dongs Zimmer zurückgezogen. Was ihr Mann schließlich unbemerkt beobachtet, ist, wie Lin Dong diese Situation zu seinem Vorteil und gegen Ping Guos Willen nutzt. Ohne es zunächst zu wissen, wird die junge Frau zum Gegenstand von finanziellen Transaktionen. Spätestens als es darum geht, aus ihrem ungeborenen Kind Kapital zu schlagen, wird auch sie selbst aktiv.

Lost in Beijing/ Ping Guo heißt der dritte Kinospielfilm der chinesischen Regisseurin Li Yu - ihr Debüt Fish & Elephant wagte sich 2000 an eine lesbische Liebesgeschichte, das Frauendrama Dam Street begeisterte 2005 die Standard-Viennale-Jury. Lost in Beijing erzählt nun von einer Gesellschaft, die im Taumel des ökonomischen Wandels die Orientierung zu verlieren droht und sich auf dem Weg nach oben von ihren basalsten Bedürfnissen leiten lässt.

Der Film entwickelt eine Serie komplizierter Verknüpfungen und Spiegelungen. Mit Lin Dongs Ehefrau Wang Mei (Elaine Jin) kommt eine vierte Partei ins Spiel, das sich um Geld und Status dreht, aber eigentlich um individuelle Enttäuschungen und Verletzungen kreist, die auch damit nicht zu heilen sind.

Visuell operiert Lost in Beijing mit einer wendigen Kamera und einem schmalen Schärfebereich - leicht rutscht jemand in die Unschärfe, leicht verliert man den Überblick: Neben dem ausgefeilten Drehbuch, das Wendung an Wendung fügt und dabei die Oberhand über die Intrige an einen anderen Akteur weiterreicht, ist es diese konsequente formale Umsetzung, die Lost in Beijing so sehenswert macht. Und genau so, wie viele Bilder eine metaphorische Lesart mitschwingen lassen, einem aber keine platte Symbolik aufs Auge drücken, genau so wenig erschöpft sich die visuelle Unübersichtlichkeit in einer simpel gedachten Entsprechung zu den äußeren (undurchsichtigen) Verhältnissen.

Der Film hatte 2007 bei der Berlinale Premiere. Im Vorfeld der Uraufführung hatten Li Yu und ihr Produzent und Koautor Fang Li zu Hause in China Probleme mit der Radio-, Film- und Fernsehbehörde (SARFT), die Änderungen beziehungsweise Kürzungen verlangte.

In Berlin wurde schließlich der nicht behördlich autorisierte unzensierte "Director's Cut" gezeigt, der jetzt auch in Wien zu sehen ist. Li Yu und Fang Li wurden dafür mit zwei Jahren Berufsverbot bestraft. Vordergründig wurde die explizite Darstellung von Sex beanstandet. Aber es darf vermutet werden, dass das Bild der chinesischen Gesellschaft, das der Film zeigt, nicht den offiziellen Vorstellungen entspricht.

Das derzeitige Klima, so Fang Li, sei mit ein Grund, weshalb Filmemacher ihre Geschichten oft im "alten China" ansiedeln: "Der Spielraum ist kleiner als zuvor." So oder so ähnlich sieht das am Ende auch für die fiktiven verlorenen Seelen von Peking aus. (Isabella Reicher/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25. 3. 2008)