Der Herr im abgetragenen grünen Parka muss sich so aufregen, dass seine Stimme fast überschlägt. In der einen Hand ein Plastiksackerl, in der anderen eine Österreichfahne in Tischdeckenformat, erklärt er seiner Begleiterin sieben Straßenbahnstationen lang, was es mit der EU auf sich hat.

„Die Machthaber in Brüssel dürfen jetzt unsere Demonstranten bei Demos mit scharfer Munition anschießen“, empört er sich. Seine Bekannte nickt verträumt und seufzt. Man könne sich gar nicht vorstellen, was da alles falsch laufe. Das einzige, was man tun könne, sei sich ein paar Bäume anzupflanzen und Wasservorräte zu sichern, damit man das notwendigste habe, wenn es „ernst wird“, so sein Rat. „Die Saudis schwimmen in unserem guten Hochquellwasser, und wir müssen dann das aufbereitete Kanalwasser trinken“.

Für eine Volksabstimmung, gegen die "EU-Diktatur".
Foto:derStandard.at/Zielina

„Die EU“ sei eine Diktatur, die es zu vernichten gilt. Am Westbahnhof steigen die beiden aus und sind einen Augenblick später verschluckt von einem Meer aus Österreichfahnen.

Ein Meer von Fahnen

Es ist Samstag Nachmittag, und die „Plattform Volxabstimmung“ hat zur Demo für eine Volksabstimmung über den EU-Reformvertrag aufgerufen. Dann ist etwas passiert, was wohl auch die Veranstalter nicht in dieser Form erwartet hatten: Die Kronenzeitung entschloss sich, die Demonstration groß zu bewerben. Die Folge: Am Westbahnhof stehen jetzt linke Globalisierungskritiker neben Pensionisten mit Kronenzeitungs-Schirmkappen, Steierhüte neben bunten Dreadlocks, Österreichfahnen neben Che Guevara-Shirts. Man ist verwirrt – und das beruht auf Gegenseitigkeit. Steht man doch mit den Menschen gemeinsam auf der Straße, an deren Lebenseinstellung man sonst möglichst nicht anstreifen will.

Österreichfahnen, stolz präsentiert.
Foto: derStandard.at/Zielina

Die ersten Redner auf dem Bühnenwagen beginnen zu sprechen. Das Podium haben die mehrheitlich linken Veranstalter fest in der Hand. Die Sprecher bemühen sich redlich, aber die österreichische Volksseele will nicht so recht harmonisch ruhig sein. Eine junge türkische Aktivistin ruft auf der Bühne zur Solidarität auf. Ein älterer Herr, korrekt gekleidet in grauem Mantel und Hut, stellt sich vor den Wagen und ruft: „Wos – a Türkin darf da reden? A Frechheit“.

„Wir sind schon bald Gäste im eigenen Land“, erklärt eine Demonstrantin mit frisch gelegter Dauerwelle, extra aus Vorarlberg sei sie angereist, um heute zu protestieren. Was das mit dem Reformvertrag zu tun habe? Naja, die Ausländer seien eben schuld dass alles schlechter wird – „Sind doch alle gleich, ob aus Brüssel oder der Türkei“.

Sprechchor-Wettbewerbe

„Ich weiß momentan nicht, wie ich damit umgehen soll, ich bin etwas ratlos“, erklärt ein junger Mann, der an einem Stand T-Shirts mit antifaschistischen und antirassistischen Motiven verkauft. Zwar verfolge man dasselbe Ziel, eine Volksabstimmung über den Vertrag von Lissabon, aber wie weit man sich dafür mit der anderen Seite einlassen soll – die Gratwanderung bereitet Schwierigkeiten.

Internationale Solidarität gegen Patriotismus.
Foto: derStandard.at

„Eins, zwei, drei, vier, Rassismus stoppen wir – fünf, sechs, sieben, acht, Nieder mit der rechten Macht!“ Eine Gruppe von linken AktivistInnen beginnt Terrain zu verteidigen. Kurz bleiben sie alleine auf weiter Flur, dann stimmt ein Gegenchor von älteren Demonstranten „Volksabstimmung, Volksabstimmung“-Rufe an. Ein paar Minuten überschreit man sich gegenseitig, dann einigt man sich auf das gemeinsame Rufen nach einer Abstimmung.

"Judenblattl"

JournalistInnen schwirren herum und sprechen mal mit der einen, mal mit der anderen Seite. Nicht immer gilt die simple (und vorurteilsbehaftete) Rechnung: Jung ist gleich links, alt ist gleich Kronenzeitung. „Ah, Sie schreiben was über uns? Das ist ja toll. Wo erscheint das denn?“, will ein schwarz gekleideter, etwa 30-jähriger Mann wissen. Für derStandard.at? „Oh, das Judenblattl“, wendet er sich enttäuscht ab.

Zwei Schwestern, beide noch Schülerinnen, sind mit dem Zug aus Mistelbach angereist. Sie haben über die Organisation Attac von der Veranstaltung erfahren. „Wir sind für eine Volksabstimmung, klar“, betonen sie. „Aber dass wir dann heute hier stehen und uns beschimpfen lassen müssen, das haben wir nicht erwartet.“ Ein junger Mann in Bomberjacke hatte den beiden Mädchen mit türkischen Vorfahren erklärt, die Demo sei „nur für Einheimische“. Ein paar junge Männer, mit Bierdosen bewaffnet und in die Österreichfahne eingewickelt, stehen am Rand der Straße und beobachten den Demonstrationszug. „Ein Wahnsinn, da sind ja lauter Linke da heut“. Gestern (bei der FPÖ-Demo, Anm. d. Red.) sei es besser gewesen, da „waren wir unter uns“.

Die gute Sache

Als sich der Zug in Bewegung setzt, bilden sich Grüppchen, je nach Zugehörigkeit zu Vereinigungen und nach politischer Ausrichtung.

Zwei Welten treffen aufeinander.
Foto:derStandard.at/Zielina

Eine kleine, zerbrechliche und faltige Dame mit Steirerhut nimmt ihren Chihuahua auf den Arm, damit er nicht zertrampelt wird. Eine Aktivistin im Batik-Look bietet ihr an, sie könne ihn in ihr Fahrradkörbchen setzen. Kurz sieht man die Dame überlegen, aber dann nimmt sie das Angebot gerne an. „Ist ja nicht so, dass wir nicht an einem Strang ziehen“, resümiert sie. „Ist ja für die gute Sache“. (Anita Zielina, derStandard.at, 5.4.2008)