Tatsächlich hat die EU zwar die alleinige Zuständigkeit für Währungspolitik und Außenhandel, kann aber die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten nur koordinieren. Bereiche wie Steuer- oder Beschäftigungspolitik, die ganz zentral die obgenannten Probleme betreffen, verbleiben somit weitgehend in nationaler Verantwortung. Hier nun eine massive Veränderung zu fordern klingt vernünftig, ist es aber nicht, wenn gleichzeitig jede weniger weitgehende Reform als ungenügend abgelehnt wird. In Wahrheit wird argumentiert: Solange die EU nicht zum "Superstaat" mit umfassenden Kompetenzen zumindest für die gesamte Wirtschaftspolitik wird, ist eine Stärkung der Union in geringerem Ausmaß oder eine Vertiefung der Integration in "falschen" Bereichen wie dem Militär- und Rüstungswesen zu bekämpfen.
Ganz ohne Zweifel ist der Reformvertrag nicht dieser Quantensprung, ebenso wenig wie es der Verfassungsvertrag war. Ihn aus diesem Grund abzulehnen ist jedoch genauso, wie gegen eine Reform des UN-Sicherheitsrates zu opponieren, solange China noch dessen Mitglied ist. Die Grundrechtecharta und die Übertragung weiterer Kompetenzen im Bereich Justiz und Inneres sind jene "kleinen" Schritte, die typisch sind für die Entwicklung der EU und die in die geforderte Richtung gehen. Entgegen mancherorts verbreitetem Unsinn ist der Reformvertrag auch nicht der Abschluss des Integrationsprozesses. Zu behaupten, die Grundrechtecharta sei in den Mitgliedstaaten nicht verbindlich, ist irreführend: Sie ist zwar kein Prüfmaßstab für nationales Recht, aber für EU-Recht und dessen Umsetzung, und füllt damit durchaus eine Lücke. Jeder Bürger der EU (ausgenommen Briten und Polen) könnte sich auf die durch sie gewährten Rechte berufen. Was die Vertragsbestimmungen zur Verteidigungspolitik betrifft, vergisst man auch gern zu erwähnen, dass diese die diesbezügliche Sonderstellung Österreichs unberührt lassen.