Es gibt drei Richtungen der Fundamentalkritik an der EU. Der ersten geht die Integration zu weit, sie will eine Rückübertragung von Gemeinschaftsbefugnissen und ein "Europa der Vaterländer". Andere Kritiker haben zwar nicht viel Ahnung von den Kompetenzen der EU, ihr wird aber jedenfalls (Mit)Schuld an Lohngefälle, Arbeitslosigkeit, und "sozialer Kälte" in den Mitgliedstaaten gegeben. Schließlich gibt es Kritiker wie Attac-Mitgründer Christian Felber (vgl. Standard 29. 2.), die sehr wohl um die Diskrepanz zwischen solchen Vorwürfen und dem realen Handlungsspielraum der EU wissen und zur Lösung der genannten Probleme, durchaus schlüssig, mehr Kompetenzen für Brüssel fordern.

Tatsächlich hat die EU zwar die alleinige Zuständigkeit für Währungspolitik und Außenhandel, kann aber die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten nur koordinieren. Bereiche wie Steuer- oder Beschäftigungspolitik, die ganz zentral die obgenannten Probleme betreffen, verbleiben somit weitgehend in nationaler Verantwortung. Hier nun eine massive Veränderung zu fordern klingt vernünftig, ist es aber nicht, wenn gleichzeitig jede weniger weitgehende Reform als ungenügend abgelehnt wird. In Wahrheit wird argumentiert: Solange die EU nicht zum "Superstaat" mit umfassenden Kompetenzen zumindest für die gesamte Wirtschaftspolitik wird, ist eine Stärkung der Union in geringerem Ausmaß oder eine Vertiefung der Integration in "falschen" Bereichen wie dem Militär- und Rüstungswesen zu bekämpfen.

Ganz ohne Zweifel ist der Reformvertrag nicht dieser Quantensprung, ebenso wenig wie es der Verfassungsvertrag war. Ihn aus diesem Grund abzulehnen ist jedoch genauso, wie gegen eine Reform des UN-Sicherheitsrates zu opponieren, solange China noch dessen Mitglied ist. Die Grundrechtecharta und die Übertragung weiterer Kompetenzen im Bereich Justiz und Inneres sind jene "kleinen" Schritte, die typisch sind für die Entwicklung der EU und die in die geforderte Richtung gehen. Entgegen mancherorts verbreitetem Unsinn ist der Reformvertrag auch nicht der Abschluss des Integrationsprozesses. Zu behaupten, die Grundrechtecharta sei in den Mitgliedstaaten nicht verbindlich, ist irreführend: Sie ist zwar kein Prüfmaßstab für nationales Recht, aber für EU-Recht und dessen Umsetzung, und füllt damit durchaus eine Lücke. Jeder Bürger der EU (ausgenommen Briten und Polen) könnte sich auf die durch sie gewährten Rechte berufen. Was die Vertragsbestimmungen zur Verteidigungspolitik betrifft, vergisst man auch gern zu erwähnen, dass diese die diesbezügliche Sonderstellung Österreichs unberührt lassen.

Würde man auf einen Integrationsvertrag warten, wie ihn Christian Felber fordert, könnte man den Integrationsprozess gleich aufgeben, oder einige Mitgliedstaaten wie Großbritannien müssten zuerst aus der EU austreten. Jedoch selbst unter den integrationsfreundlichsten Umständen ist es unwahrscheinlich, dass Mitgliedstaaten mit einem Schlag den Großteil ihrer noch verbliebenen Souveränität an Brüssel abtreten. Abgesehen davon: Glaubt Christian Felber wirklich, dass sich die Mehrheit der Österreicher für (noch) mehr Integration begeistern würden? Wie die Abstimmung über einen solchen Vertrag ausgehen würde, kann man sich leicht ausrechnen. Ihn zu fordern und alles "Mindere" abzulehnen ist somit im Ergebnis nicht weniger destruktiv als die ersten zwei genannten Formen der EU-Kritik. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.4.2008)