Der Münchener Schriftsteller Stefan Wimmer preist in seinem fabelhaften Roman "Der König von Mexiko" den Müßiggang hin zum Laster. Endlich einmal traut sich das jemand wieder zu sagen.

Foto: Eichborn
Draußen wird es hell, drinnen ist es längst scho dumpa. Im Stammlokal hat es bei unserem Protagonisten die Sicherung wieder einmal vorzeitig durchgeschnalzt. Over and out. Kein Wunder. Die gibt es gar nicht. Schon gar nicht in herbeigejammerten Vollsuffphantasmen vom rettenden, streng nach Testosteronüberschuss zwischen Hausfrau und Nutte angelegten mexikanischen Engerl, das alles versteht, einsam auf einem Millionenerbe sitzt und um drei Uhr früh ungepflegte, dicke, versoffene, deutsche Männer darum anbettelt, sich doch bitte noch als zukünftiger Lebensabschnittspartner das Resthirn bei ihm zu Hause als Langzeitgast rauszuvögeln. Siehe auch: Von daheim aus Bayern mitgebrachte, am Weißbier trainierte Marienerscheinungen. Sieben sind zu wenig, zwölf sind zu viel.

Wie sagte schon Georg Christoph Lichtenberg, das Schicksal so mancher, speziell hier am Sand verlaufenden Akademikerkarriere vorwegnehmend: Wir haben es beim nur mild als Ingo Falkenhorst getarnten Tunichtgut Stefan Wimmer als "König von Mexiko" schlicht und einfach mit einem Messer ohne Klinge zu tun, dem auch noch der Griff fehlt.

Seit dem frühen Nachmittag ist im Herrscherhaus also jedes weitere Getränk an der Bar wieder einmal nur ein guter Grund mehr, den Abend am besten mit vorgezogenem Nachdurst und zwo, dro Linien von den kolumbianischen Export/Import-Freunden zu beschließen. Dann kann man natürlich schon wieder nicht schlafen, geschweige denn studieren und/oder arbeiten. Ereignislosigkeitsballung! Der folgende Tag gilt frühzeitig als rechtschaffen verschissen. Darauf eine Lokalrunde! Enter. Start. Replay. Absturz. Neustart. Das System hochfahren. Irgendwo auf der Welt ist es immer fünf Uhr am Nachmittag. Zeit für einen Aperitif. Kein Heiland in Sicht. Anrufe für ihn werden aber zwischendurch gerne am "Big White Telephone" entgegengenommen.

Dort trifft man auch zugekokste Soziopathen mit dem in diesem Land, weiß Gott, nicht bloß als Touristenklischee funktionierenden, etwas unbefangeneren Zugang zu Trauer, Tod, Mord, Totschlag und, sagen wir es gelassen, nacktem Wahnsinn. Wer es nicht glaubt und es eilig hat: Auf Youtube.com kann man sich von José José, einem psychisch definitiv niemals auf der sicheren Seite befindlichen mexikanischen Vollalkoholiker und Frauenerleger, dem die Welt legendäre Konzeptalben wie Sie sagen, ich bin ein Clown oder Zerronnen und Gefangener der Totalverzweiflung verdankt, die letzte Beichte abnehmen lassen. Um sich dann vom mächtigen und mächtig gewaltbereiten Supermacho-Mariachi Vincente Fernández mit Bratlgeige und Trommelrevolver einsargen zu lassen: "Manche sagen, ich sei zivilisiert, doch ich fühl’, wie’s vibriert, wenn ich in Wallung bin! Ich fühl’, wie’s KOCHT, wie’s EXPLODIERT, das Blut, das in meinen Venen läuft, wenn mir die Stimmung danach ist ..." Dazu aufgrund der Höhenlage von Mexiko-Stadt, das hier als Nebendarstellerin eine tragende Rolle spielt, Sauerstoffmangel. Der Gestank von Bratfett und Abgasen. Motorengeknatter, Polizeisirenen, Schüsse – und überall aus schäbigen Lautsprechern knatternde schwachsinnige Bachata- und Cumbia-Schlager, die von "amor", "dolor", "calor" und "sabor" künden. Wer in dieser Stadt nüchtern bleibt, braucht keinen Therapeuten.

El Borracho Number one

Der bayerische Schriftsteller, Lebemann, Trinker, Experte für lateinamerikanische Schmacht- und sonstige, durch Nase oder Schlund zugefügte Fetzen sowie Journalist für diverse Busenfachzeitschriften, Stefan Wimmer, hat schon 2005 in seinem damals leider wenig beachteten und jetzt neu aufgelegten Debüt Die 120 Tage von Tulúm seine persönlichen Geschicke und Abstürze im Mexikanischen verhandelt. Ein Auslandsstipendium kann ja auch dafür genutzt werden, dass man für das Leben etwas lernt.

Wenn man schon nicht auf die in jeder Hinsicht verwahrloste Universität fahren will, um dort eine bahnbrechende Diplomarbeit über mexikanische Essayistik vorzubereiten, die man obendrein auch noch mit strikt nicht recherchierten Reportagen für deutsche Wimmerlzeitschriften finanziert. Zum Fremdschämen komisch, führt Stefan Wimmer diese hohe Kunst der Verlotterung und des Verkommens nun auch zurück ins heimatliche München.

Dort erwarten ihn als Redakteur mit dem Schwerpunkt Allgemeines im Playboy nicht nur wehmütige Abstürze und Mobbing- wie Panikattacken mit der Schnapsflasche im Büro. In diesem dem Geist des Nichtnutzens und toxischen Missbrauchs verpflichteten, nun vorliegenden anekdotischen und zumindest vom laschen Geist der Moderne unbeeindruckten Mannsbildern vorbehaltlos empfohlen seienden Roman Der König von Mexiko geht es uneinsichtig wie munter weiter.

Und dank eines mitunter an große trinkende englische und amerikanische Granden wie Malcolm Lowry oder Charles Bukowski erinnernden, lakonisch plaudernden und einen schlanken Fuß behaltenden Erzähltons findet hier die angesichts des Jubeljahres 1968 derzeit wieder fröhliche Urständ feiernde Beat-Literatur mit der Betonung auf Kater und Sodbrennen tatsächlich eine seltene wie würdige Fortsetzung, wie man sie in den vergangenen Jahrzehnten im deutschsprachigen Raum nur von einem Jörg Fauser kennenlernen durfte.

Dabei liegt es Wimmer denkbar fern, dem Alkohol und Kokain monokausale Schuldzuweisungen aufzuhalsen. Wo gehobelt wird, wird gelebt. Wo gelebt wird, wird der Stoff gewechselt. Das macht beim Lesen, das einen tief hinein ins Lotterleben von Mexiko-Stadt zieht, ebenso euphorisch wie man es dann zwischen- zeitlich mit Stefan Wimmer auch einmal mit der Angst zu tun bekommt. Weil man in der Kokseuphorie wieder einmal nicht das Maul halten konnte und nun ein fieser und vor allem beleidigter Kerl hinter einem her ist, um seine Waffenkünste am lebenden Objekt zu demonstrieren.

Tatsächlich haben wir es hier nach langen, entbehrungsreichen Jahren der ausgezehrten Befindlichkeitsprosa von jungen dünnen Männern zwischen den Clicks und Cuts der Berliner Minimal-Techno-Clubs endlich wieder mit The Return of selbstverständlich beim Stammwirt sitzender Pfundskerl zu tun. Wenn wir ihn stechen, rinnt Herzblut. Und Bier.

Stefan Wimmer, "Der König von Mexiko". € 18,50/316 Seiten. Eichborn, Frankfurt am Main 2008. Stefan Wimmer, "Die 120 Tage von Tulúm". € 20,60/272 Seiten. Eichborn, Frankfurt am Main 2008.