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Der Körper wird zum Träger der vielen Identitäten, die immer neue Aspekte von Sexualität und Geschlechterrollen enthüllen.

Foto: Reuters/HO
Warum ist es so wichtig, eine Meinung zu Madonna zu haben? Ob für sie oder gegen sie. Immer werden die Standpunkte mit leidenschaftlicher Vehemenz vertreten. Kulturwissenschaftliche Kriege wurden um sie geführt, und erst seit der Jahrtausendwende werden die Stimmen über sie gefasster und kühler. Dennoch ist auch die Premiere der neuesten CD "Hard Candy" ein Weltereignis. Madonna tritt diesmal als eine Art Boxchampioness auf. Der Weltmeistergürtel trägt ein M und Dollarzeichen aus Glitzersteinchen. Madonna fascht sich die Hand für den Boxhandschuh. Sie hält für das Coverfoto kurz lasziv inne und zeigt an der schwarzen Fasche, was erotisch so möglich wäre. Ein kleines goldenes Kreuz am Goldkettchen um den Hals ergänzt das Bild um die Widersprüchlichkeit, die das Markenzeichen dieser Künstlerin geworden ist.

"Hard Candy" ist auch der Titel einer Geschichtensammlung von Tennessee Williams. Geschichten von härtester Sexualität werden darin erzählt. "Hard Candy": Im Straßenjargon beschreibt das ganz allgemein das Härteste von Pornografie und Drogen. Auch diese Anleihe gehört zur Marke Madonna, die immer wieder auf Street-Smartness als Überlebenstechnik zurückgegriffen hat.

Lebenskarriere im Popbusiness

Und überlebt hat sie ja. Madonna hat etwas erreicht, das man sich in den 80er-Jahren nicht vorstellen konnte. Sie hat als Frau eine Lebenskarriere im Popbusiness geschafft. Das "man" muss hier wörtlich genommen werden. Bis zu den 80er-Jahren war im Popgeschäft nicht viel Platz für Weiblichkeit. Natürlich gab es Frauen, aber der Olymp war ihnen nicht zugänglich. Das änderte sich mit dem Beginn von MTV.

1981 begann MTV zu senden. Ein Konzept der pubertären Dauerprovokation sollte junge Sehergruppen an den Sender binden und den Musikkonsum erhöhen. Alles wurde angegriffen und ausgehebelt. Alle Bereiche etablierter Macht wurden infrage gestellt. Der Bereich der etablierten Geschlechterrollen konnte da nicht verschont bleiben. Gleichzeitig boten die Musikvideos die Möglichkeit, sich als Sänger oder Sängerin auch bildlich zur "Erzählstimme" der Songs zu machen. Die Kontrolle war nun nicht nur über die Musik möglich. Auch das Erscheinungsbild dieser Musik wurde selbst mitgeprägt. Über diesen technischen Weg wurden nun Frauen sichtbar, und sie nahmen die Kontrolle ihrer Sichtbarkeit selbst in die Hand. Cyndi Lauper erzählte "Girls just want to have fun" auf Video, und eine neue Ära begann.

Für Madonna als Sängerin und Tänzerin bedeutete die Musikvideokultur, dass ihr Körper in den Gesamtentwurf einbezogen wurde. Der Text der Songs wurde von der Aktion unterstrichen, ironisiert, eingesprochen und immer sexualisiert. Madonnas Körper ist die Musik genauso wie die Stimme. Der Körper wird zum Träger der vielen Identitäten, die immer neue Aspekte von Sexualität und Geschlechterrollen enthüllen. Die Musik folgt den Einflüssen der Zeit und der Technik. Die Stimme ist die eine Konstante, die die hinter den vielen Verwandlungen und Verkleidungen liegende Person der Künstlerin in Erinnerung bringt. Die Stimme führt dazu, diese Verkleidungen und Verwandlungen zu durchdringen und eine Madonna zu ahnen, die sich uns nie zeigen wird.

Erzählstimme

Pop ist Realität. Pop ist natürlich nur eine der vielen möglichen Realitäten, aber im Augenblick des Wahrnehmens dieser Musikshows bildet sich eine andere Realität als etwa in einer Opernaufführung. Der Rhythmus, der in Bewegung und Tanzen das Publikum und die Bühne vereinigt. Die Texte, die von allen mitgesungen werden können. Die Handbewegungen, die die Begeisterung ausdrücken. Das Eindringen der Schreie auf die Bühne. Vollkommene Teilnahme. In dieser Realität ist der Sänger oder die Sängerin wieder mit einer allwissenden Erzählstimme ausgestattet, die auch darüber bestimmt, was gesehen werden soll. Für die Dauer des Konzerts gilt diese Erzählweise, und Madonna nützt sie für eine Unzahl von Geschichten der Selbstermächtigung. Und weil das Leben keine Fallgeschichtensammlung der Soziologie ist. Und weil diese Geschichten in den USA spielen. Und weil die USA von einer Gesellschaft bewohnt werden, die besonders große Moralverlustängste plagen. Deshalb müssen diese Selbstermächtigungen ein provokantes Programm entwickeln. Und wie wäre auch in einer Popszenerie, in der gewalttätig Männliches und ohnehin selbstverständlich Sexistisches einen so angestammten Platz haben, mit freundlichen Abendliedern Erfolg zu haben?

Und weil alles in den 80ern begann und in den 90ern dann gerade niemand mehr zu schockieren war, deshalb mussten alle Möglichkeiten sexueller Provokation benutzt werden, die einer schönen jungen Frau offenstehen, ohne dass sie sich hässlich machen muss. Die Grenze zur Hässlichkeit oder zum Ekel hat Madonna dann ja doch nie überschritten. Darin bleibt sie Unterhaltung, und heute lesen sich die Hymnen an ihre dionysische Sexualität schon wieder recht altmodisch.

Madonna hat eine kluge Markenentscheidung getroffen. Sie hat sich alle Möglichkeiten offengelassen, sich zu spielen.

Es könnte jeder dieser Auftritte auch immer wieder als Neuanfang gesehen werden. Der Launch einer neuen Kollektion. Wie in der Haute Couture wird ein Stil jeweils wechselnden Gegebenheiten angepasst. Bei Madonna sind es nicht die Jahreszeiten, sondern die Lebensabschnitte, die die Herausforderungen abgeben. Die Selbstverständlichkeit, mit der nun der 50. Geburtstag in Angriff genommen wird, erinnert an die Disziplin der Tänzerin ihrem Körper gegenüber. Es kann Empowerment genannt werden, den eigenen Körper so zurichten und benutzen zu können. Es kann als Markenpflege bezeichnet werden. Es könnten aber natürlich auch ganz einfach Selbstachtung und gute Gene sein, dass kaum ein Zeichen von Alter zu sehen ist. Oder gezeigt wird.

Wahrnehmungsgewohnheiten

Die Musik. Viel Verachtung von der Kritik wird auf die Musik angewandt. Einfach. Zu einfach. Populär. Einfallslos. Viele Vorwürfe werden an die Musik delegiert, um sich die Bewertung der Performance zu ersparen. Statt den moralischen Einspruch zu formulieren, wird auf die Musik einkritisiert. Aber auch für die Musik Madonnas gilt die Regel von der vorgefassten Meinung und den Wahrnehmungsgewohnheiten. Woran misst sich eine solche Kritik, und wer bestimmt den Kanon, an dem die Musik gemessen werden soll. Den Erfolg einer Musik beim Publikum als Maßstab kritischer Ablehnung zu nehmen, das mag in manchen Fällen zutreffen. Aber dann müssten die Tschaikowsky-Klavierkonzerte auch auf ihre Popularität hin abgelehnt werden, und das beweist die Unanwendbarkeit einer solchen Formel.

Es ist alles Regie und genau überlegt, und die Einnahmen geben alldem Recht. Wenn von Ermächtigung die Rede ist, dann muss sie Madonna zugesprochen werden. Ihre Marke ist biggest Business, und das verdient. Jedenfalls ist es ironisch befriedigend, dass diese Frau mit der Auflösung patriarchal bestimmter Geschlechteridentitäten so viel Geld verdienen konnte.

Wie sich das alles nun auf das Publikum überträgt? In der Poprealität ist dieses Spiel der Selbstermächtigung für alle gemeinsame Wirklichkeit. In Musik, Stimme, Text und Performance stellt sich diese Wirklichkeit her und wird im Körper jeder einzelnen Person mitrealisiert. In der Philosophie des Pop reicht dieses Mitperformieren, sich der Ermächtigung des Stars selbst zu bemächtigen. Für die Zeit eines Madonnakonzerts wird das zutreffen. Danach wäre es schön, wenn alle selbst als Künstlerinnen die Konzerte verlassen würden und die Suche nach der eigenen Identität ebenso spielerisch weiterführen würden. Eines der Verdienste von Madonna Ciccone ist ja doch, dass sie den melancholisch-männlichen Entwicklungsroman für die Frauen umgeschrieben hat. Herausgekommen ist dabei ein erotisch riskanter Abenteuerroman. Für sie selbst ist er gut ausgegangen, und es ist allerherzlichst zu gratulieren. Zum schönen Fünfziger. (Marlene Streeruwitz/Der Standard/rondo/02/05/2008)