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"Je schlichter ich etwas erzählen kann, desto zufriedener bin ich." – US-Regielegende Sidney Lumet im Gespräch.

Zur Person
Sidney Lumet, 1924 in Philadelphia/Pennsylvania als Sohn polnischstämmiger Juden geboren, war als Kind bereits Darsteller in jiddischen Theaterproduktionen in New York, was ihn schließlich an den Broadway führte.

Die darstellerischen Ambitionen gab er aber zugunsten erster eigener Regiearbeiten für das Fernsehen schnell auf. Mit dem Justizdrama "Die 12 Geschworenen" feierte er schließlich 1957 seinen Durchbruch im Kino.

Seither gilt Lumet als Spezialist für intelligente Genreproduktionen, wobei er seit den 70er-Jahren zunehmend radikal entlang exzellenter Scripts das Spannungsverhältnis zwischen Arbeit und Leben, Gesellschaft und Ökonomie auslotet.

Klassiker sind heute seine Polizistendramen "Serpico" (1973, mit Al Pacino) und "Prince of the City" (1981, mit Treat Williams). Die bitteren Mediensatiren "Dog Day Afternoon" (1975) und "Network" (1977) sind ebenso in seiner umfänglichen Filmografie zu finden wie das Anwaltsdrama "The Verdic"t (1982, mit Paul Newman).

Legendär ist Lumets hoch effizienter Arbeitsstil: Geplante Drehzeiten unterschreitet der heute 83-Jährige, der gerade schon wieder ein neues Projekt vorbereitet, meist. (cp)

Foto: Reuters / Vincent Kessler
Mit dem melodramatischen Thriller "Before The Devil Knows You're Dead" legt der 83-jährige Sidney Lumet einen der besten Filme dieses Jahres vor. Claus Philipp sprach mit ihm über schnelle Drehs und "verheizte" Existenzen.


Wien – "Before The Devil Knows You're Dead": Ein alter irischer Sinnspruch war Inspiration für den Originaltitel des jüngsten Films von Sidney Lumet, in dem der mittlerweile 83-jährige Hollywood-Großmeister ("Die 12 Geschworenen", "The Verdict", "Prince of the City") einmal mehr sein Lieblingsthema verhandelt und melodramatisch zuspitzt: ökonomischer und sozialer Druck, der Familien- und Arbeitsverhältnisse in schuldhafte Verstrickungen treibt.

Der alte irische Sinnspruch, er besagt im übertragenen Sinn: Du sollte am besten bereits eine halbe Stunde im Himmel sein, bevor der Teufel dein Ableben zur Kenntnis nimmt. Die Protagonisten von Lumets Thriller scheinen von diesem Zustand denkbar weit entfernt: Zwei Brüder (Philip Seymour Hoffman und Ethan Hawke) wollen aus Geldnot den Juwelierladen ihrer Eltern berauben. Der deutsche Titel "Tödliche Entscheidung" trägt der Tatsache, dass diesem Überfall ihre Mutter zum Opfer fällt, eher ungeschickt Rechnung. Vollends vertrackt wird die durch Drogen, vielfachem Betrug und zunehmende Überforderung angeheizte Situation, als sich der Vater (Albert Finney) auf die Suche nach dem Mörder macht.


Standard: Mr. Lumet, es heißt, das ursprüngliche Drehbuch hätte kein Familiendrama erzählt. Warum diese Zuspitzung?

Lumet: Immer wenn Sie einen neuen Film machen, müssen Sie zuerst den Stil bestimmen, in dem er erzählt sein wird. Diese Geschichte ist dermaßen melodramatisch, dass sie ganz genau gezeichnet sein musste. Ich mag keine Filme, in denen Leute einfach herumschreien. Und ich dachte mir: Wenn es sich bei den beiden partners in crime um Brüder handeln würde, dann wären die Gefühle enorm intensiviert. Die Tatsache, dass sich alles innerhalb einer Familie abspielt, macht das, was in der Nacherzählung unglaubwürdig klingen mag, noch unglaublicher. Aber ich denke, für den Film ist das gut.

Standard: Tatsächlich ist diese Geschichte wie viele Krimis sehr konstruiert. Wie stehen Sie allgemein zum Umgang mit Unglaubwürdigkeit? Wie macht man sie plausibel?

Lumet: Wahre Ereignisse klingen oft "wie erfunden". Im Prinzip ist doch jede gute Geschichte unglaubwürdig, für Melodramen gilt dies noch mehr. Es ist eine große Befriedigung, wenn Leute darauf reagieren, als ob alles "wahr" wäre.

Standard: Versuchen Sie als Regisseur selbst zu verstehen, was die Charaktere antreibt, oder sehen Sie sich selbst eher wie einen Maler oder Musiker, der eine bestimmte emotionale Situation mit Rhythmus, Farben und Tönen vermittelt?

Lumet: Ich denke, beides ist wahr. Ich glaube zum Beispiel nicht an verbale Erklärungen, wenn es um Defekte eines Protagonisten geht. Wenn die psychologische Wahrhaftigkeit einer Person nicht ausreichend klar wird aus dem, wie sie auftritt, werden auch alle Erklärungen nichts fruchten. Im dem Sinn läuft bei mir viel über die Schauspieler. Und insofern sind meine Filme im Vorfeld sehr probenintensiv. Beim Dreh selbst arbeite ich dann immer sehr zügig. Eine Einstellung oder eine Szene wird selten besser, wenn man sie zu oft wiederholt.

Standard: Peter Bogdanovich bemerkte zu Ihrem effizienten Arbeitsstil einmal, Sie würden einen Film bereits "in der Kamera schneiden".

Lumet: Ja, meistens. Natürlich gibt es immer Überraschungen, was auch ein Teil des Vergnügens ist bei dieser Arbeit. Aber meistens weiß ich von Anfang an, was ich erreichen will. Die kritische Phase, das ist die Probenarbeit, denn da versuche ich die Wahrheit von jedem Charakter und jeder Situation im Skript herauszufinden.

Und was quasi verschärfend dazukommt: Mit zunehmendem Alter versuche ich die Dinge auf immer einfachere Art darzustellen. Je schlichter ich etwas erzählen kann, desto zufriedener bin ich. In den 70er-Jahren hätte ich einen Stoff wie den von "Before The Devil Knows ..." wohl viel barocker gestaltet, mit deftigerer Ausleuchtung, ich hätte die Kamera viel mehr bewegt, ich hätte das nicht so simpel gemacht. Dazu kommt wohl jeder irgendwann, wenn er schon viel gemacht und ausprobiert hat.

Standard: Sie sagen das gelassen nach mehr als 70 Kino- und TV-Filmen. In der Tat erinnert Ihre Haltung ein wenig an geniale Vielschreiber wie Balzac oder Georges Simenon, die übrigens auch ganz stark von Macht und Einfluss des Geldes fasziniert waren und darüber in möglichst vielen Milieus erzählen wollten. Hatten Sie auch mitunter die Idee, gleichsam durch viele Erzählungen hindurch eine große "menschliche Komödie" erzählen zu können?

Lumet: Diese Sichtweise ist reizvoll. Außerdem: Man muss ja nur einmal aufmerksam die Straße hinuntergehen, und schon hat man ausreichend Stoff für zehn Filme. Das Leben ist so reich, zumindest in New York, wo ich lebe, wartet alles nur darauf, aufgenommen und dramatisiert zu werden. Und jetzt etwa gerade die Vorwahlen der Demokraten ...

Standard: Wie würden Sie die als Erzähler angehen?

Lumet: Na ja, da ginge es wohl, wie so oft bei mir, um Reaktionen auf großen äußeren Druck. Sowohl Barack Obama als auch Hillary Clinton haben sich im Zuge dieser Ochsentour sehr verändert. Man merkt zum Beispiel, dass Obama viel von seiner idealistischen Naivität verloren hat, und man merkt meiner Ansicht nach auch, dass er das selbst bemerkt und dass er darunter leidet. Und Clinton ist in der Dauerangriffsposition mittlerweile nur noch verbiestert.

Standard: Gab es für Sie eigentlich so etwas wie große filmische Vorbilder, Filme, die sie selbst gerne gemacht hätten?

Lumet (lacht): Mit solchen Vorbildern verhält es sich wohl so, dass man sie gerade deshalb verehrt, weil sie etwas haben, das man selbst so nicht kann. Ich bin zum Beispiel nicht unbedingt ein Spezialist für Komödien. Aber einer der Filme, an die ich immer gerne denke, das ist "The General" von und mit Buster Keaton. Eine Szene gefällt mir darin besonders: Wie sich Keaton auf eine der riesigen Pläuelstangen einer Lokomotive setzt, und er ist so verliebt und entrückt, dass er nicht bemerkt, wie die Lok losfährt und er auf der Stange hoch- und niedergetragen wird. Man sieht da völlig unpsychologisch einen Menschen mit seinen Gefühlen, und man sieht gleichzeitig die Maschinerie, von der er abhängt.

Standard: Wäre das nicht auch eine gute Beschreibung für Ihre Filme?

Lumet: Das kann man gelten lassen. Denken Sie nur an Keaton, wie er später in "The General" eine Lokomotive in rasender Fahrt mit den hölzernen Zugschwellen anfeuert und antreibt, die eigentlich seine Fahrbahn ausmachen. Er zerstört sich in der Fluchtgeschwindigkeit den Weg zurück. Und ja, das kann man auch über viele Cops und Verbrecher in meinen Filmen sagen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8.5.2008)