Forciert dramatisch: Angelina Jolie in Clint Eastwoods Wettbewerbsbeitrag "Changeling".

Foto: Festival
Das Spiel aus Erwartungen und Enttäuschungen charakterisiert jedes größere Filmfestival. In Cannes, dem bedeutendsten von allen, erreicht es besondere Ausmaße. Clint Eastwood gehört etwa zu jenen US-Regisseuren, die die französische Kritik seit jeher liebt, verkörpert er doch den prototypischen "auteur". Seine Filme entstehen innerhalb eines reglementierten Systems, sie atmen den Geist des klassischen Hollywoodkinos und kennen wiederkehrende Themen wie stilistische Konsistenz. "The palm is his to lose", die Palme könne eigentlich nur Eastwood verlieren, schrieb ein amerikanischer Kritiker schon vor Beginn des Festivals.

Gesagt, getan – sein im Hollywood der 20er-Jahre angesetztes Drama Changeling wird ihm kaum zum Erfolg gereichen, zu uneinheitlich wirkt es insgesamt. Eastwood, ein ansonsten für seine schnörkellose Inszenierungskunst geschätzter Filmemacher, holt hier mit mehr Emphase als gewöhnlich aus, um eine Gesellschaft zu durchdringen, die sich mit eklatanten Missständen konfrontiert sieht. Eigentlich ein großartiger Stoff, wie aus einem Tatsachenroman von James Ellroy: Angelina Jolie spielt Christine Collins, Alleinerzieherin, deren Sohn Walter eines Tages spurlos verschwindet. Die Suche verläuft erfolglos. Fünf Monate später bringt ihr die Polizei plötzlich ein Kind, das behauptet, Walter zu sein. Christine bestreitet dies.

Wie sich ein Einzelner den Einrichtungen des Staates entgegensetzt und dabei auf sein eigenes Recht beharrt, das war immer schon eines von Eastwoods Grundthemen. In Changeling wird daraus der Canossagang einer Mutter, die gegen eine Polizei antritt, die wie ein Souverän agiert. Man zwingt sie, das falsche Kind zu akzeptieren. Als sie sich weigert, wird sie schließlich in die Psychiatrie eingeliefert. Parallel dazu treten die wahren Hintergründe von Walters Verschwinden hervor – ein Verbrechen, das die moralischen Defizite des Landes genauso verdeutlicht, wie es auf der anderen Seite die Korruption tut.

Falscher Tonfall

Nichts gäbe es gegen Eastwoods detailgenaue Mise en scène und die patinierte Rekonstruktion dieser Ära zu sagen, gegen diesen visuellen Klassizismus, würde der Film nicht an etlichen Stellen merkwürdig überzogen, im Tonfall falsch wirken. Es mag an den Stars liegen, an deren Manierismen und Forciertheit, dass der Film bisweilen wie eine Parodie seiner selbst erscheint.

Um so mehr vermochten die belgischen Brüder Dardenne zu überzeugen, die bereits zweimal die Goldene Palme gewinnen konnten. Auch in Le Silence de Lorna steht der Kampf einer Frau im Zentrum, aber die Frage der Moral stellt sich auf ganz andere Weise. Lorna (Newcomerin Arta Dobroshi) stammt aus Albanien und hat den Junkie Claudy (Jérémie Regnier) geheiratet, um Belgierin zu werden. Der Deal hat allerdings noch eine weitere Auflage. Claudy soll sterben, damit wiederum ein russischer Mobster Lorna ehelichen kann. Le Silence de Lorna wirkt ein wenig wie der Parallelfilm zu Cronenbergs Eastern Promises. Die Dardennes benützen die Grundkonstellation eines Thrillers, um ihn quasi gegen die Fahrtrichtung zu erzählen und von einer Schattenwirtschaft zu sprechen. Lorna versucht Claudy zu retten, indem sie die Ehe auf gewöhnliche Weise beenden will. Sie richtet Gewalt gegen sich selbst, damit es zur Scheidung kommt. Die Spannung dieser Konstellation liegt darin, dass Lorna ihren eigenen Interessen schadet.

Die Frage, wie ökonomische Zwangslagen das Rechtsempfinden kontaminieren, hat die Dardennes schon früher bewegt. In Lorna nimmt die Hauptfigur schließlich eine völlig unerwartete Entwicklung. Sie versucht, Schuld zu tilgen und tauscht eine Vorstellung ihres Daseins gegen eine andere aus. Fast märchenhaft ist der Schluss, der die Zwänge des Lebens in einem Moment der Transzendenz kurz aufhebt. Mitten im Wald flüstert Lorna von einer Zukunft, die es für sie in dieser Form nie geben wird. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, DER STANDARD/Printausgabe, 21.05.2008)