Im Osten Europas spielt die Musik. Seit dem Kontinent in den Jahren 1989 ff. das Widerlager der UdSSR und ihrer Trabanten abhanden gekommen ist, kann er sich nicht mehr bloß ex negativo, als liberales Projekt gegen den Kommunismus präsentieren, sondern er ist zu einer positiven Formulierung seiner Identität gezwungen: Wer sind wir, was wollen wir, was schließen wir ein - geografisch, politisch, religiös -, wogegen grenzen wir uns ab? Die Identitätsfrage stellt sich nirgendwo schärfer als in jener riesigen südost- und osteuropäischen Zwischenzone, in der der Kontinent an Russland und den arabischen Raum angrenzt.

Sie stellt sich besonders akut auf dem Balkan, wo die Devastierungen des Krieges und eine lange Tradition der "Hysterisierung der kleinen Unterschiede" unheilvoll nachwirken. Die europäische Identitätsfrage stellt sich besonders akut in der Ukraine, die zwischen dem Westen und Russland hin- und hergerissen ist. Und sie stellt sich besonders scharf im Hinblick auf die Türkei: Im Verhältnis zu ihr wird die Zukunftsbeziehung zwischen "christlichem Abendland" und "dem Islam" paradigmatisch verhandelt. Es ist somit keineswegs übertrieben formuliert, wenn Wolfgang Petritsch den angesprochenen Raum als das "Labor für die Probleme des 21. Jahrhunderts" definiert. Wenige wären zu diesem Urteil berufener als der Diplomat, der Österreich heute bei der UNO in Genf repräsentiert: Von 1997 bis 1999 war Petritsch Botschafter in Belgrad, von 1999 bis 2002 EU-Sonderbeauftragter für den Kosovo und EU-Chefverhandler bei den Friedensverhandlungen von Rambouillet und Paris.

Wie nähert man sich diesem hyperkomplexen Gegenstand "Zwischeneuropa" an? Man kann es mit den konventionellen Mitteln akademischer Disziplinen - Historiografie, Soziologie, Geografie usf. - tun, aber man kann es auch so bewerkstelligen wie der Wiener Universitätsprofessor und Projektdenker Christian Reder, der seinen unorthodoxen Modus operandi bei der wissenschaftlichen Erforschung und Durchdringung diffiziler Regionen bereits in einem Dutzend Buchpublikationen (Edition Transfer im Springer Verlag) demonstriert hat.

Drei Jahre lang hat Reder an seinem jüngsten und vielleicht ehrgeizigsten Projekt "Graue Donau, Schwarzes Meer" gearbeitet: Mit finanzieller Unterstützung der Universität für angewandte Kunst in Wien, wo er das Zentrum für Kunst- und Wissenstransfer leitet, hat er mehrere Projektgruppen von Studenten und Wissenschaftern auf penibel vorbereitete, wochenlange Arbeitsexpeditionen in den südost- und osteuropäischen Raum entsandt, und die haben sich mit künstlerischen, essayistischen und fotografischen Beiträgen, die "Zwischeneuropa" auf unterschiedlichste Art erhellen, revanchiert. Philosophischer Wegbegleiter des Projektes war der ehemalige Bloch-Mitarbeiter und Ästhetikprofessor Burghart Schmidt, der selbst einen Beitrag zur Erinnerungskultur sowjetischer Mahnmale verfasst hat.

Die Reisen über die Graue Donau an das Schwarze Meer sind einem produktiven Methodensynkretismus verpflichtet, der sich durch vorurteilslose Offenheit auszeichnet: Man findet in dem Buch etwa ein Gespräch, in dem sich der erwähnte Wolfgang Petritsch erstaunlich unverblümt zu den Problemen der Region äußert. Ein Interview mit dem Magnum-Fotografen Erich Lessing, der den Ungarn-Aufstand 1956 dokumentiert hat. Eine Beschreibung des "Danube Panorama Projects", einer Donauuferkartografie des jungen Künstlers Miachael Aschauer. Einen Beitrag von Friedrich Achleitner über die KZ-Gedenkstätte Jasenovac von Bodgan Bogdanovic und so fort. Resultat dieses Gesamtunternehmens ist ein fast 600 Seiten starkes Buch, das in der Originalität seiner Herangehensweise und im Reichtum seiner Perspektiven wenig Vergleichbares hat (grafisch gestaltet hat es übrigens Stefan Fuhrer, vom dem auch die layouterische Neukonzeption der Beilage stammt, welche Sie gerade in Händen halten).

Dennoch wäre es unzutreffend, den Ansatz von Reder und Mitherausgeber Erich Klein als "holistisch" zu bezeichnen: Dem Anspruch der Erfassung eines großen Ganzen widerspricht Reders skeptische Grundhaltung, der das Fragen wichtiger ist als das Behaupten. Eher ließe sich von einem polyperspektivischen Werk sprechen, bei dem sich historische, politische, gesellschaftliche und künstlerische Phänomene beständig ineinander spiegeln. Einer der ersten Beiträge, ein Essay von Reder selbst, gilt den Reflexen, die die osteuropäische Geschichte in Pariser oder Wiener Straßenbezeichnungen erfahren hat: Boulevard de Sébastobol, Rue des Balkans, Rue de Constantinople, Türkenschanzplatz, Ungargasse und so fort. Die Topografie legt Zeugnis von einer nach wie vor wirkmächtigen historischen Tiefenschicht ab, die auch für die Zukunft des "Labors Osteuropa" essenziell sein wird. Um sie besser zu verstehen, leistet "Graue Donau, Schwarzes Meer" exzellente Handhabe. (Christoph Winder / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25.5.2008)