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Weinberge soweit das Auge reicht.

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Grafik: DER STANDARD
Sanft verlaufen die grünen Rebhügel vor dem ostkretischen Städtchen Sitia. Weinberge soweit das Auge reicht, ein randloser grüner Blätterteppich mit alten Flecken: Die zwischen den Rebstöcken ausgegrabenen minoischen Grundmauern deuten auf die lange Tradition des Weinbaus hin, und auch Sitia zieht sich wie ein gemauerter Weinberg über Terrassen zum Hafenbecken hinunter. Doch anstelle von Kellergassen verlaufen parallel zur Mole Venizelou quirrlige Marktzeilen samt Kafenions und Straßengrills.

Eines davon betreibt Nikos, der Wirt der urigen Ouzeria Merkalis, und wie es sich für einen guten Kreter gehört, verfolgt er jenseits des Tresens auch noch zahlreiche Nebengeschäftchen. Früher plauderte Nikos über Kurzwelle lokale Neuigkeiten aus, jetzt gibt es immer noch das traditionelle Rosinengeschäft: Mitte August geht es los mit dem Trocknen, dann ist Marienfest, ein Spektakel mit viel Wein, und an der oberen Uferpromenade spielen die ganze Nacht Musiker zum Tanz auf. Doch für echte Sitianer ist das Thema Rosine damit noch längst nicht ausgereizt.

Zwei Wochen kräftige Sonne zum Trocknen, bei hellen Sorten besser drei, wird am Stammtisch fachgesimpelt. Ein Alter schwört auf Nachdörren im Ofen, zumindest aber auf ausgebreiteter Folie. Und der Wirt empfiehlt, geschichtete Duftblätter zwischen die gepressten Trockenfrüchte zu legen. Ende September sollte der Job gelaufen sein, zumindest darin sind sich alle einig. Denn dann wird die Witterung zu feucht, und da hilft auch jene Erfindung der Kreter nicht weiter, mit der sie die türkische Kunst der Rosinenerzeugung verfeinerten: Sowohl die kleinen schwarzen Korinthen, als auch die großen hellgelben Sultaninen mit ihren feinen Schalen werden dabei auf überdachte Gitter gelegt und purzeln erst dann durch die Gestelle, wenn sie richtig geschrumpelt sind. Auf ganz Kreta sind das immerhin 100.000 Tonnen.

Rieseln und Reifen

Das langsame Rieseln der Rosinen, die langen Stangen, mit denen auf der Hochebene von Lassithi die Nüsse von den Bäumen geholt werden, und nicht zu vergessen: das Reifen des Tiridistripas, dem "Käse aus dem Loch", der in den Mitates-Hütten für Aroma sorgt - für viele Besucher der Götterinsel zählen solche Eindrücke zu den intensivsten Erlebnissen eine Kreta-Reise. Und tatsächlich: Kreta ist eine kulinarische Landschaft, bewirtschaftet seit Jahrtausenden, voll von regionalen Feinheiten inmitten einer oft rauen Kulturlandschaft, deren traditionelle Dörfer heute häufig von Abwanderung bedroht sind.

Was Agrotourismus dabei leisten kann, und zwar zum gegenseitigen Wohle, verrät bereits ein rascher Blick auf die Region Apokóronas bei Réthimnon, die mit einer besonderen Dichte an Revitalisierungsprojekten aufwarten kann. Der Landstrich rund um den Hauptort Vámos, an dem begüterte venezianische Familien ihr architektonisches Erbe zurückließen, wird heute längst nicht mehr nur von wohlhabenden Athenern frequentiert.

"Landleben", das steht in Orten wie Doulianá oder Gavalochóri für revitalisierte Villen, die nun vermietet werden, aber eben auch für Besucher, die zur Weinlese oder danach an die rußigen Kupferkessel der Kasani-Brennereien kommen, in denen der wahre Sprit Kretas ensteht: Tsikoudia. Der entsteht aus Pressrückständen der Olivenernte, seit über drei Wochen gärenden Schalen, Kernen und Stielen sowie aus Kräutern am Boden des Brennkessels zum Aromatisieren der angesetzten Maische. Vorkoster dürfen sich dann über den noch lauwarmen Schnaps freuen und vom Verfeinern des Weintresters mit Sultaninen und Melonenschalen erfahren, oder vom Maulbeerbrand Murnoraki aus Spili, Kretas teuerstem Tsikoudia.

Agrotouristenversteck

Längst hat sich quer über die Insel ein Netzwerk von agrotouristischen Einrichtungen und Anbietern entwickelt, die stets etwas gemeinsam haben: nämlich die Lage am Ende kleiner Nebensträßchen, die in die versteckten Falten Kretas führen. Um nicht zu sagen: in die Eingeweide der Insel selbst. Im Falle von Aspros Potamos, einem weit im Osten gelegenen Weiler, der ohne Strom auskommt, wurde der Grundstein zur Revitalisierung der traditionellen Steinhäuser allerdings von Athener Architekten gelegt.

Heute genießen die Besucher den Zauber einer unverschandelten Umgebung, die sich wie eine Speisekarte erwandern lässt. Denn gut sind Kretas angrenzende Berge, Hochplateaus und Schluchten ja auch für Wildgemüse. Artischocken, Spargel, Sauerklee, Löwenzahn und Senfkraut ergänzen den Chorta, den grünen kretischen Salat, der wild wächst, und den die trockene Erde im Sommer leicht süßlich macht - und als Wintersalat "Radicia" ein wenig bitter. Auch das lernt man nämlich als Agrotourist. Außerdem, dass der wild wachsende Majoran "Rigani" gemeinsam mit Salbei, Lavendel, Thymian, Rosmarin und vielen anderen Kräutern die Stachelpolster dort bis Mai in ein geradezu orgiastisches Blütenmeer verwandelt.

Waldig, tiefgrün, kühl sprudelnd gestaltet Kreta den "echten" Urlaub am Bauernhof: Weit im Westen der Insel, nur einen Maronenwurf von sprudelnden Mineralwasserquellen und den Kastanienwäldern der Region Enno Horio entfernt, haben sich alteingesessene Familien zur Rettung des verfallenden Weilers Milia zusammengetan. Nun wohnen naturverbundene Touristen in den acht renovierten Kalksteinhäusern und können am ebenfalls revitalisierten Gutshof nach traditionellen Methoden Landwirt spielen.

Zu tun gibt es eine Menge an diesem schattigen Waldfleckchen: Ziegen und Schafe füttern, Dünger ausbringen, unter Anleitung erfahrener Bauern Joghurt, Käse und Topfen anrühren, dem Dorfimker helfen. Und grüne Wunder erleben hier selbst die Faulen: etwa unter der riesigen Platane am Ortsrand von Azogirés, die nicht einmal im Winter ihre Blätter verliert. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Printausgabe/24./25.5.2008)