Ås – Vollkommen regungslos liegt er am Rande des Wasserpflanzen-Dickichts. Die Sonne scheint durch das klare Wasser auf sein Schuppenkleid, dessen graugrünes Muster mit goldenen Flecken den langgestreckten Fischkörper nahezu perfekt tarnt. Der Hecht lauert. Jeder zu nahe kommende Fisch wird blitzartig von seinem mit nadelspitzen Zähnen bewehrten Maul erfasst und verschlungen. Kleinere Artgenossen inklusive.

Kannibalismus ist unter Raubfischen nichts Ungewöhnliches. Barsche, Kabeljau und auch die eleganten Bachforellen vergreifen sich regelmäßig an Ihresgleichen. Bei nur wenigen Arten dürfte die Neigung zum Verspeisen der eigenen Spezies jedoch so ausgeprägt sein wie bei Hechten – zoologisch Esox lucius genannt. Besonders bemerkenswert ist ihre Fähigkeit, Artgenossen zu verschlucken, die nicht viel kleiner sind als sie selbst. Zwischen Fressen und Gefressenwerden liegen oft nur Zentimeter.

Sogar Hechtbrut stellt sich gegenseitig nach. Dänische Forscher setzten markierte, knapp streichholzlange E. lucius in einem kleinen See aus und stellten fest, dass, je nach Zeitpunkt, bis zu 98 Prozent dieser Kleinfische spurlos verschwanden. Die Neuankömmlinge fielen höchstwahrscheinlich den ein paar Wochen älteren, einheimischen Junghechten zum Opfer.

Welch starke Auswirkungen Kannibalismus auf die Populationsdynamik von Hechten und ein ganzes Ökosystem haben kann, bringt eine neue norwegische Studie ans Licht. Die Fischereibiologen Chhatra Mani Sharma und Reidar Borgstrom von der Norwegian University of Life Sciences in Ås untersuchen seit Jahren den 3 km langen Årungen-See. Das Gewässer leidet unter Eutrophierung (Nährstoffbelastung). Jährliche Algenblüten sind die Folge, Fischsterben bleibt aber zum Glück aus.

Mehr Räuber her!

Raubfische können die Wasserqualität von Seen günstig beeinflussen, indem sie die Bestände an Zooplankton fressenden Schuppenträgern wie z. B. Rotaugen reduzieren. Dann können sich planktonische Kleinkrebse und dergleichen stärker vermehren. Sie wiederum verzehren größere Mengen einzelliger Algen. Das Wasser wird klarer, die Nährstoffe werden stabiler gebunden – ein positiver ökologischer Rückkopplungseffekt.

Sharma und Borgstrom überlegten, wie ein solcher Prozess auch im Årungen-See zu begünstigen wäre. Zwar leben dort neben Barschen auch überaus schnellwüchsige Hechte, doch diesen beiden Raubfisch-Populationen gelang es offenbar nicht, den enormen Massen an Rotaugen und Rotfedern Herr zu werden. Es mussten mehr Räuber her. Die beiden Experten entschieden sich zu einem ungewöhnlichen Versuch. Sie begannen, größere Hechte von mehr als 65 Zentimeter Länge gezielt mit Netzen wegzufangen. So hofften sie, den Kannibalismus zu verringern und den Hechtbestand insgesamt zu vergrößern.

Die Rechnung ging auf. Bereits nach einem Jahr hatte sich die Populationsdichte mittelgroßer Hechte (45–65 cm Länge) mehr als verdoppelt, berichten die Forscher in einer Online-Vorabveröffentlichung der Fachzeitschrift "Ecology of Freshwater Fish". Reidar Borgstrom hebt die positiven Auswirkungen auf den Fischbestand im Årungen-See hervor. Auch die Anzahl größerer Barsche steige. Man wisse aber nicht, ob die Methode in jedem Gewässer funktioniere, warnt der Wissenschaftler. "In komplexeren Ökosystemen mit mehr Fischarten könnten die Ergebnisse völlig anders sein." (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12. 6. 2008)