Wien - Auf den ersten Blick haben die österreichische und die türkische Dichtung kaum etwas gemeinsam. Wo hierzulande das sprachspielerische Experiment seit langem die Hauptlinie darstellt, arbeiten sich die meisten türkischen Lyriker an der Tradition ab. Eine Avantgarde in dem Sinne hat es am Bosporus nie gegeben oder sie führte allenfalls "ein unterschwelliges Dasein", wie Erhan Altan und Thomas Eder in ihrem Aufsatz "Experiment mit Tradition" feststellen.

Gelenekle Deney - Experiment mit Tradition, so heißt auch das Buch, das der seit 22 Jahren in Wien lebende türkische Übersetzer und der österreichische Literaturwissenschafter herausgegeben haben. Am Dienstag wird der zweisprachige Band, der Gedichte und theoretische Texte von je vier jungen Dichtern aus beiden Ländern enthält, im Rahmen des Festivals Europäischer Dichtungen in der Alten Schmiede vorgestellt.

Was die Autoren bei allen Unterschieden verbindet, ist ihr Suchen nach einer eigenen Stimme. Ömer Sisman schreibt, oft würden die Jungen in der Türkei von konservativen Kritikern gefragt: "Warum wollt ihr anders sein?" Seine Gegenfrage spielt auf die erstarrte Tradition an: "Wie lange hätte denn das noch so weitergehen können!?" Sismans Texte zeigen Mut zur Künstlichkeit.

Mehmet Öztek dagegen achtet in seinen Texten darauf, das Bestehende nicht zu verleugnen. Im März haben sich Sisman, Öztek, Idil Kizoglu und Murat Üsübal in Istanbul bereits einmal mit den österreichischen Kolleginnen Ann Cotten, Petra Nachbaur, Lisa Spalt und Anja Utler getroffen, um auf der Grundlage ihrer Gedichte zu diskutieren. Vor der Lesung in Wien kommt es zu einer neuerlichen Begegnung.

Erhan Altan hegt mit dem Projekt vor allem den Wunsch, die türkische Lyrik in puncto Ausdrucksmöglichkeiten an die österreichische heranzuführen. Man hofft aber, dass auch die hiesigen Dichter vom Austauch profitieren können. Weitere Kooperationen sind auf jeden Fall geplant. (Sebastian Fasthuber, DER STANDARD/Printausgabe, 23.06.2008)