Bild nicht mehr verfügbar.

Im Zentrum der jamaikanischen Hauptstadt Kingston finden sich legendäre Reggae-Studios wie Channel 1.

Foto: Corbis

Jamaikas kommender Superstar, Sängerin Etana.

Foto: VP
Europas größtes Reggae-Festival, das norditalienische "Rototom Sunsplash" , lud deshalb nach Jamaika zur Programmpräsentation. Doch die Idylle erweist sich als trügerisch.


Nächste Woche startet im norditalienischen Osoppo bei Udine Europas mittlerweile größtes Reggae-Festival, das "Rototom Sunsplash" . Zwischen 3. und 12. Juli werden sich dort an zehn Tagen heuer insgesamt über 150.000 Reggae-Begeisterte aus ganz Europa einfinden. Von denen stammten allein im Vorjahr ein Drittel aus Österreich.

Das lässt auf einen gar nicht so heimlichen Trend schließen. Der während der letzten Jahre oft ausgegrenzte Reggae und seine diversen Derivate wie Dub, Dancehall, Roots-Reggae oder Raggamuffin‘ erfreuen sich nicht nur bester Gesundheit. Allein in Österreich verkaufen sich neue Tonträger von zentralen Vertretern des Genres laut dem heimischen Vertriebsspezialisten Hoanzl ganz ohne Werbung und mediale Berichterstattung aus dem Stand schon innerhalb der ersten Woche mehrtausendfach.

Ganz zu schweigen von einer Unzahl jüngerer österreichischer Musiker, die sich (wieder) den jamaikanischen Sounds verschrieben haben und regelmäßig für volle Hallen sorgen. Als Beispiele seien etwa B-Seiten Soundsystem, Dubblestandart oder Sofa Surfers angeführt. Ein in schweren Zeiten für die (heimische) Musikindustrie bemerkenswertes Phänomen. Zusätzlich erfährt Reggae nach seiner internationalen Hochzeit mit Bob Marley, Peter Tosh, Culture oder Black Uhuru in den 70er- und frühen 80er-Jahren bis zu Shaggy oder Shabba Ranks in den 90er-Jahren derzeit einen weltweiten Schub, speziell auch in den USA.

Immerhin lassen sich die alten Sounds von aus Afrika kommenden und über die ganze Welt namens Babylon verstreuten Opfern der Sklaverei und Entrechtung speziell in Zeiten der Globalisierung und ihrer Gegenbewegungen spätestens seit den Aufständen während des G8-Gipfels im italienischen Genua im Juni 2001 wieder ganz prächtig als Musik zur Revolte vermarkten.

Das kapitalistische Speed-kills-System "Babylon" mit seiner gottlosen Propagierung von Arbeit und Gewinnmaximierung als schon in der Bibel über die Vertreibung aus dem Paradies angegriffenem Missstand wurde dank der wiederbelebten Rastafari-Kultur erneut zum kommerziellen Thema – speziell auch dank des als cool antiglobalistisch weltweit gefeierten Multimillionen-Reggaes des französischen Superstars Manu Chao. Ein Widerspruch? Jein.

Entschleunigung

Gerade junge Hörer abseits des rein musikalischen Freizeitkonsums wollen Reggae nun wieder hören – und eben auch konsumieren. Dass dazu die gern und häufig gerauchten jamaikanischen Kräuter nicht nur extrem entspannend, sondern speziell auch entschleunigend wirken, erweist sich in dieser Form des Protests als nettes Beiwerk in schnellen Zeiten.

Die Organisatoren des "Rototom Sunsplash" luden dank des großen und gegenwärtig kaum absehbaren Neuerfolgs dieses widerständigen Sounds (von wegen: "Babylon must burn!" ) nun zur Präsentation des heurigen Festivals in Norditalien zur Reise ins Mutterland des Reggae. Schließlich will man mit der gleichzeitigen Eröffnung eines Büros in Kingston auch den prosperierenden europäischen Reggaemarkt unter italienische Kontrolle bringen.

Das Programm 2008 wurde mit friaulischer Lokalregierungsbeihilfe im legendären wie noblen, dem britischen Reggae- und Musikmogul Chris Blackwell von Island Records gehörenden Strawberry Hill Hotel in den Bergen über der jamaikanischen Hauptstadt Kingston präsentiert.

Dorthin flüchtete sich einst der 1981 verstorbene Nationalheilige Bob Marley aus Furcht vor weiteren Anschlägen, nachdem er 1976 aus politisch motivierten Gründen eine halbe Autostunde weiter unten in Kingston in seinem heute zum Museum umgewidmeten Haus niedergeschossen worden war. Dort nahmen etwa auch Peter Tosh und Mick Jagger 1978 ihr berühmtes Duett Don’t Look Back auf. Im Strawberry Hill kamen also für einen Nachmittag Musiker zusammen, die wegen der tristen Verhältnisse in Jamaika vehement ins Ausland drängen.

Alte Reggae-Legenden wie Bob Andy (Song Book) oder Sugar Minott (Rub A Dub Sound Style) waren hier bei Auftritten ebenso zu sehen wie kommende Superstars wie Don Corleon oder Shaggy-Produzent Robert Livingston oder die Soul und Reggae verknüpfende Sängerin Etana.

Eine trügerische, auch von der jamaikanischen Kulturministerin Olivia "Babsy" Grange unterstützte Idylle. Die ehemalige Managerin des wegen seiner homophoben Äußerungen ins internationale Aus geratenen, in Jamaika allerdings allgemein geschätzten Shabba Ranks konnte mit der Postulierung von Bob Marleys alter Botschaft einer die Menschen einenden "One Love" nicht darüber hinwegtäuschen, dass das friedliche europäische Reggaetreiben in Jamaika selbst nur eine theoretische Entsprechung hat.

Der aktuelle Sound der abstoßenden und niedergehenden Halbmillionen-Metropole Kingston, in der ein halbwegs sicheres Leben nur noch mit Leibwächtern und hinter Stacheldraht möglich ist, belegte, dass musikalische Aufrufe zur Harmonie nur mehr ein Randthema sind.

Dank der auch in der Karibik greifenden Globalisierung und der damit verbundenen, ziemlich heftigen Kokainkriege mit im Jahresdurchschnitt fünf Morden pro Tag, regiert mit Protagonisten wie Mavado, Vybz Kartel oder dem jetzt auch in Norditalien auftretenden Busy Signal die jamaikanische Entsprechung zum asozialen US-Gangsta-Rap. Allerdings nicht als bloße MTV-Pose, sondern real.

Schussgeräusche

Im Zweifel also sind die inflationären Schussgeräusche auf deren technoiden, von Bob Marley ziemlich weit entfernten ComputerSongs nicht gestellt. Die können da schon einmal bei offenen Fenstern unabsichtlich mit auf die Tonspur geraten. Das bestätigt auch der nach Jamaika ausgewanderte italienische Produzent, Sänger und Rastafari Alborosie im Interview: "Auf dem Weg ins Paradies muss man zuvor die Hölle durchschreiten!" Sagt es – und rollt sich einen dicken Joint. Übrigens, das ist in Jamaika strengstens verboten und wird vom Großteil der Bevölkerung abgelehnt. Nicht alle Klischees müssen stimmen. (Christian Schachinger aus Kingston, Jamaika / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.6.2008)