Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist entstanden, was wir heute unter moderner Karriere verstehen. Zum einem war sie eine rationale Antwort auf das Problem der steigenden Größe und Komplexität von Organisationen, zum anderen hat sie sich auch als "moralisches Projekt" entwickelt, das durch folgendes Beispiel aus einer britischen Forschung veranschaulich wird.

Eine der größten Eisenbahngesellschaft im England des 19. Jahrhunderts war mit dem Problem der Disziplinlosigkeit ihrer Mitarbeiter konfrontiert. Da die Eisenbahn in dieser Zeit ein neues Transportmittel darstellte und die eigene Kundschaft vom risikofreien Zugreisen erst überzeugt werden musste, waren zahlreiche Verstöße insbesondere gegen Geschwindigkeits- und Zeitplanvorschriften zu bekämpfen. Zu diesem Zweck wurden Inspektoren engagiert.

Erfolglose Inspektion

Ohne Erfolg. Die Inspektoren tauschten bald ihre Uniform gegen Zivilkleidung um. Den Eisenbahnern schien es dennoch weiterhin zu gelingen, über jede Inspektion im Voraus informiert zu sein. Wieder kein Erfolg! Erst durch die Etablierung eines Regelwerkes gelang es, das zu erreichen, was mit dem Versuch, Mitarbeiter zu kontrollieren, scheiterte.

Spielregeln

Durch die Festlegung von "Spielregeln" konnten sich neue Einstellungen der Arbeit und dem Unternehmen gegenüber progressiv bilden und entfalten. Sie bildeten die Basis des "Aufstiegsphänomens" - wie es der deutsche Soziologe Friedrich Fürstenberg in den 1960er-Jahre nannte - d. h. sowohl der wahrgenommenen Aufstiegsmöglichkeiten als auch der Aufstiegsmotivation. Karrieren konnten sich unter dem Motto "Ist man loyal zur Organisation, ist die Organisation loyal zu mir" in diesem Sinne entwickeln.

Inwiefern dieses Motto heute noch aktuell ist, lässt sich nicht so leicht beantworten. Die Karriereforschung distanziert sich von ihrer ursprünglichen Behauptung: "Alles wird neu, die gute, alte Karriere verschwindet". Was sich dagegen zweifelsohne geändert bzw. verschärft hat, sind die Turbulenzen des Marktes, die die Zukunft eines Unternehmens immer gefährden bzw. zumindest beeinflussen.

Karriere bleibt

Selbst wenn die Unsicherheit wachsen und ansteigen wird, wird die Karriere bestehen. An dieser Stelle sei an die Geschichte der Scheherazade erinnert, die, um von ihrem königlichen Gemahl nicht getötet zu werden, jeden Abend eine Geschichte erzählt, deren Handlung am Morgen abbricht. Neugierig auf das Ende der Geschichte lässt der König sie am Leben. Tagein, tagaus wiederholt sich diese Sequenz. In das berufliche Feld übertragen, bildet diese Geschichte letztendlich eine sehr traditionelle Karriere - im Sinne einer Bindung zu einer Organisation - ab, dennoch mit hohem Risikofaktor. Ist man sich dessen bewusst, dann ist man seinem Schicksal nicht mehr ausgeliefert, genauso wie Scheherazade es nicht war. (Alexandre Iellatchitch*, DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.6.2008)