1938 steht als Chiffre für eine der einschneidenden Zäsuren in Österreichs Geschichte. 2008 gedenken wir dieser dunkelsten Stunde – und wir gedenken eines Mannes, der beispielhaft für jene auch intellektuelle Widerstandskraft steht, zu der die Sozialdemokratie damals unter anderen Voraussetzungen fähig gewesen wäre. Otto Bauer, der 1934 vor den Austrofaschisten nach Brünn fliehen musste und 1938 vor den deutschen Faschisten nach Paris, starb dort am 4. Juli im 57. Lebensjahr. Nach dem Tod Viktor Adlers 1918 war er zum führenden Funktionär und Vordenker der österreichischen Sozialdemokratie und einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Sozialistischen Internationale aufgestiegen. In seinem theoretischen Wirken und dessen Umsetzung manifestieren sich Fragen, Erfolge und auch Fehlschläge der Arbeiterbewegung der Ersten Republik.

So weit die Kurzfassung, die sich auch als Epitaph nur schwerlich eignet. Angemessener scheint es, die ungeheure Vielfalt seines Wirkens aus dem Diskurs einer lebendigen, streitbaren Arbeiterpartei heraus zu begreifen, in deren Zentrum er wirkte, deren höchste Funktion er aber nie anstrebte und nie innehatte. Sehr unterschiedliche Persönlichkeiten finden wir in dieser Partei: Karl Renner, Otto Bauer, Max Adler, Friedrich Adler, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Otto Leichter – um nur einige zu nennen – rangen nicht nur um politische Standpunkte, sie führten einen fruchtbaren sozialwissenschaftlichen Diskurs, etwa ab 1904 in den Marx-Studien oder ab 1911 in der sozialistischen Monatsschrift Der Kampf. Zentrale Monografien waren Renners Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, Rudolf Hilferdings Das Finanzkapital und eben Otto Bauers Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie.

Die Auseinandersetzung mit der Nationalitätenfrage war nicht nur für die Sozialdemokratie im Habsburgerreich ein wichtiges Anliegen. Der 25-jährige Otto Bauer legte 1907 mit seinem Buch ein Werk vor, das in der internationalen Arbeiterbewegung Aufmerksamkeit erregte. Felix Kreissler wies darauf hin, dass Bauer durch die Berücksichtigung der Frage nach der Nation für den marxistischen Diskurs einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Überdies ging es Bauer um die Bestimmung der Nation als Schicksals- und Charaktergemeinschaft, was eine radikale Abkehr von einer Naziideologie wie "Blut und Boden" bedeutete. Damit allein gab sich der höchst belesene, vielseitig aktive Publizist Bauer nicht zufrieden. Seine Arbeiten waren stets auch Themen gewidmet, die tagespolitische Probleme der Partei und der Internationale aufgriffen.

In Die österreichische Revolution (1923) ging es Bauer nicht um eine Abkehr von der Marx’schen Staatsauffassung, wie es ihm Hans Kelsen vorwarf. Vielmehr verwahrte er sich gegen jeden "Vulgärmarxismus" und setzte auf "die feinere theoretische Analyse", die er bei Marx und Engels aufspürte. Noch heute frisch wirken seine glasklaren Formulierungen über divergierende Kräfte in der Gesellschaft, etwa seine Beobachtungen zum "Gleichgewicht der Klassenkräfte": Dies sei erst gegeben, "wenn keine Klasse mehr imstande (ist), die andere niederzuwerfen und niederzuhalten. (…) Dann hört die Staatsgewalt auf, ein Herrschaftsinstrument der einen Klasse zur Beherrschung der anderen Klassen zu sein." Diese These Bauers, dass ein Staat in diesem Zustand des "Gleichgewichts" klassenneutral sein kann, hat es der Sozialdemokratie ermöglicht, denselben nicht nur als Instrument der Herrschenden anzusehen, sondern auch als Instrument der Arbeiterbewegung und anderer fortschrittlicher Bewegungen. Darauf beruhten auch die demokratiepolitischen Positionen des Linzer Programms von 1926, in dem ein "dritter Weg" zwischen Reformismus und Bolschewismus aufgezeigt wurde.

Die heute teils radikal anmutenden Formulierungen dieses von Bauer mitgeprägten Programms, besonders im Hinblick auf die Verteidigung der Demokratie im Fall eines Angriffes bourgeoiser antidemokratischer Kräfte, muss man im Lichte der Tatsache sehen, dass sich in der Ersten Republik keineswegs alle relevanten politischen Kräfte mit der Demokratie und dem Parlamentarismus abgefunden hatten – was die Arbeiterbewegung einige Jahre später schmerzlich erfahren musste. Bauer lehnte jedoch Koalitionen mit der Christlichsozialen Partei nie generell ab, sondern nur unter unzumutbaren Bedingungen. Die Auffassung mancher Kritiker von Bauers Politik, eine Koalition um jeden Preis hätte den Faschismus verhindert, mutet vor diesem Hintergrund etwas naiv an. Mit dem Linzer Programm, dem wichtigsten Dokument des Austromarxismus, reagierte die Sozialdemokratie auf die sich verschärfenden inneren Gegensätze in Österreichs Gesellschaft. Ganz klar blieb aber ihr bedingungsloses Festhalten an der parlamentarischen Demokratie: "Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wird die Staatsmacht in Form der Demokratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben."

Ziel war nicht der revolutionäre Umsturz, sondern die Erringung einer parlamentarischen Mehrheit, um die Visionen einer sozialen, demokratischen und gerechten Gesellschaft zu verwirklichen. Immer wieder reibt sich Bauer an der Hegemonie der "großen Bourgeoisie", die er – ähnlich wie Antonio Gramsci – in der konsequenten Beeinflussung der öffentlichen Meinung begründet sieht. Dagegen setzte er auf Bildungs- und Aufklärungsarbeit und sah die vordringliche Aufgabe in der Einbeziehung kleinbürgerlicher und kleinbäuerlicher Schichten in den Emanzipationskampf der Arbeiterbewegung. In seinem Agrarprogramm von 1925 wurden Maßnahmen angestrebt, um die Kleinbauern gegen die aggressive Interessenpolitik von Großgrundbesitz, Handels- und Bankkapital zu schützen. Diese Position ging in das erwähnte "Linzer Programm" von 1926 ein: "Zwischen der Bourgeoisie auf der einen, der Arbeiterklasse auf der anderen Seite stehen das Kleinbürgertum, die Kleinbauernschaft, die freien Berufe. Sie haben nur noch die Wahl, den Troß der Bourgeoisie zu bilden oder Bundesgenossen der Arbeiterklasse zu werden."

Der weitere Verlauf der Ereignisse in der Ersten Republik sollte zeigen, dass das agrarisch-bürgerliche Parteienbündnis unter Führung der Christlichsozialen Partei zunehmend bereit war, den Sozialdemokraten nicht nur mit geistigen Waffen entgegenzutreten: An das Massaker vom 15. Juli 1927 und an den "Korneuburger Eid" 1930, bei dem die Heimwehren erklärten, "den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat" zu verwerfen, und an die Ausschaltung des Parlaments im März 1933 sei ausdrücklich erinnert. Dies und die sich auf allen Ebenen verschärfenden Auseinandersetzungen spiegeln sich in seinen Arbeiten wider, die immer stärker um Faschismusanalysen zu kreisen beginnen – von einer intensiven Reflexion des Bonapartismus bis hin zu den Faschismen der 1920er- und 1930er-Jahre.

Im Zentrum all seiner Analysen standen die industrielle Entwicklung und die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft. Seiner wachen Beobachtungskraft blieb nicht verborgen, in welcher Brutalität und Offenheit der bis dahin vorwiegend latente Antisemitismus das politische Geschehen zu beherrschen begann. Bauers letzter Artikel erschien am 5. Juli 1938, einen Tag nach seinem Tod. Er war ein leidenschaftlicher Appell "an das Gewissen der Welt", in dem er die demokratischen Staaten aufrief, den Juden aus den Herrschaftsgebieten Nazideutschlands die Auswanderung zu ermöglichen. Was bleibt von Otto Bauer, dem revolutionären Denker, der den Marxismus nie als starres Lehrgebäude betrachtete, sondern die jeweils aktuelle politische Situation aus den Machtverhältnissen in der Gesellschaft heraus begriff? Damals wie heute geht es in der Politik um die Lebenschancen der Menschen, die wir Sozialdemokraten innerhalb der sozialen Demokratie am gerechtesten gewahrt sehen. In der Zweiten Republik hat sich besonders Bruno Kreisky bemüht, einen sozialdemokratischen Etatismus im Sinn des Staatsverständnisses des Austromarxismus politisch umzusetzen – und prägte damit die 1970er. Damit waren ein gewaltiger Modernisierungsschub und Sozialreformen verbunden.

Die konservative Wende der ausgehenden 1980er und 1990er mit ihrem neoliberalen Gebetsmühlentext "Weniger Staat, mehr privat" und die schwarz-blaue Regierung haben die Möglichkeiten der staatlichen Gegensteuerung gegen Sozialabbau und die tendenzielle Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts stark eingeschränkt. Wenn ausgerechnet ein sehr konservativer Politiker wie Andreas Khol davon schreibt, dass "wir (...) uns einer präfaschistischen Stimmung und damit einer Krise unserer Demokratie" nähern (Die Presse, 14. 6. 2008), sollte das auch seinen Gesinnungsfreunden zu denken geben – wenngleich ich Khols Meinung nicht teile.

Die Ursache für die Stimmung gegen die Politik und die Parteien liegt mit darin, dass wir es mit enormen Veränderungen zu tun haben, die alle Menschen spüren und die viele verunsichern. Der soziale Überbau der Gesellschaft kann mit diesen rasanten Veränderungen kaum mehr mithalten. Die Menschen fürchten, zwischen Extremen zerrieben zu werden. Das Nachhinken der Sozialpolitik führt zu Zukunftsängsten, die einen hervorragenden Nährboden für jede Art populistischer Politik darstellen. Verantwortungsvolle sozialdemokratische Politik muss sich damals wie heute mit der Frage beschäftigen, wie wir den sozialen Wandel verstehen und neue Sicherheiten bieten können. Es ist müßig zu fragen, wie Bauer die Probleme des beginnenden 21. Jahrhunderts politisch beurteilt hätte. Eine nüchterne historisch-materialistische Analyse im Sinn Bauers kann meines Erachtens nur zu einer pragmatischen, reformorientierten Politik führen, wobei "Reform" gleichbedeutend sein muss mit sozialem Fortschritt – national und international. Die gravierenden Probleme erfordern europaweite und internationale Lösungen. Es ist sinnlos, Moralpredigten gegen den globalen Kapitalismus zu halten und sich jedem Versuch zu verschließen, die nationalen Beschränkungen politischer Gegensteuerung zu überwinden. (Alfred Gusenbauer, ALBUM, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 5./6. Juli 2008)