Eine Unzahl von Laufbildern wird auch heuer auf das Publikum der Wiener Filmfestwochen losgelassen. Und wieder wird der STANDARD ausführlich über Programme, Protagonisten und Momente der Viennale informieren.
Claus Philipp versucht eine Vorschau.
Folgendes Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich es im Februar dieses Jahres in einem Multiplex-Saal der Berlinale sehen durfte: Ein kleiner schwarzer Junge, seltsam bewehrt mit Sturzhelm und Superheldenkostüm, steht auf einer sommerlich beschienenen Abbruchhalde - mutig und verunsichert, fragil und unbeirrbar zugleich. George Washington , das Langfilmdebüt eines gerade erst 25-jährigen texanischen Regisseurs namens David Gordon Green, erschien mir damals im Internationalen Forum des jungen Films als ein längst fälliger Gegenentwurf zum dialogverliebten, an Peformances orientierten Independent-Kino. Und schon jetzt freue ich mich darauf, diesen ersten Eindruck bei der Viennale überprüfen zu dürfen, ihn möglicherweise auch revidieren zu müssen. Egal: Das Bild dieses Kindes hält, das weiß ich, und es steht ganz einzigartig in einer Galerie ähnlich unverwechselbarer Momente, mit denen ich dieses Festival-Jahr jetzt schon verbinde: Montiert ergäben sie einen sehr individuellen Kopffilm. Meinen Film. Streifen Sie nur durch die umliegenden Webseiten (die in den kommenden Tagen noch reichlich Zuwachs bekommen werden). Oder lesen Sie den auch heuer wieder umfänglichen Festival-Katalog. Von Jahr zu Jahr erstaunt es einen mehr, mit welch merk- und denkwürdigen Geschichten, Beobachtungen, Konstellationen das Kino einen doch konfrontieren kann (und gerade dadurch stoisch dem superschnellen Informationsfluss unserer Zeit gegensteuert). Freuen Sie sich schon auf Rudolf Thomes Paradiso (und ganz besonders auf Irm Hermann, die sich da einmal mit unglaublichem Charme einer Nonnenkluft entledigt); hören Sie Bryan Ferry zu und sehen Sie, wie seiner Version von In the Mood for Love in Wong Kar-wais gleichnamigem jüngstem Meisterwerk magisch entsprochen wird. Schütteln Sie den Kopf über den Exekutions-Experten Fred Leuchter in Errol Morris' Mr. Death . Jubeln Sie - wie schon das Publikum in Cannes - über die tanzenden, schwebenden Nahkämpfer in Ang Lees Crouching Tiger, Hidden Dragon . Oder schenken Sie einfach Jean-Luc Godards Histoire(s) du cinema einen Tag ihres Lebens (den 22. 10. im Stadtkino). Das Herrliche und Anstrengende an Filmfestivals: Sie ermöglichen im Gegensatz zu anderen Festwochen wildeste Wechselbäder innerhalb von Tagen und Stunden. Fortwährende Begeisterung über mögliche Meisterwerke ist dabei auf Dauer keine Kategorie. Ärger, Unbehagen, Langeweile oder schlicht Erstaunen über unvermutete Begegnungen und Wiedererkennungseffekte gehören ebenso zum Tanz durch die Bildwelten. Und dann ist da möglicherweise das Bedauern. Oft wird eine erneute Begegnung mit einem Film, der einem wichtig geworden ist, nicht mehr möglich sein. Für nur 24 Filme aus dem Viennale-Programm steht derzeit fest, dass sie nachher auch regulär in die heimischen Kinos kommen werden. Bei den anderen - George Washington gehört ebenso dazu wie etwa Godards Histoire(s) - bleibt man mit der Hoffnung auf eine erneute Begegnung möglicherweise auf verlorenem Posten. Und vielleicht ist gerade das heute die Hauptfunktion von Filmfestivals: eine Sehnsucht nach anderen Bildern und Haltungen aufrechtzuerhalten, die unzweifelhaft immer noch existieren. Und eine mediale Bildung zu mobilisieren in effizienzorientierten Zeiten, in denen sich Marktdominanz vor allem über Werbebudgets und Kopienzahlen und weniger durch die Qualität unerwarteter filmischer Momente definiert. Schon ein großartiger Teenager-Film wie Barry Levinsons Liberty Heights wird, wenn er in den USA nicht den obligaten Erfolg hat, hierzulande von den Verleihern nur noch höchst zögerlich beworben und gefördert. Das macht, auch wenn diese Viennale nicht offensiv Themen wie "Österreich heute" auswalzt, das Festival dennoch politisch brisant. Das, was die Menschen brauchen und wollen, können sie oft erst bestimmen, wenn sie die Alternativen kennen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, Beilage 5. 10. 2000)