Claus Philipp
Mit Godard und speziell mit seinen Histoire(s) du cinéma verhält es sich ein wenig wie mit einer Besteigung eines unüberschaubaren Gebirgsmassives. Zu viel Respekt und Wissen um mögliche Unwägbarkeiten ist für denjenigen, der sich diesem monumentalen Werk stellt, nicht unbedingt zuträglich. Man übersieht dann oft gerne den durchaus entspannten Witz, der da zwischen Aphorismen, Zitaten, Bild-, Ton- und Textpartikeln aufflackert. "manchmal möchte man wünschen/dass in Frankreich die Tätigkeit des Geistes/wieder mit Gefängnis bestraft werden kann/das würde den freien Geistern/etwas von ihrem Ernst zurückgeben" - Schon wenn man das in Hanns Zischlers exzellenter Übersetzung im Textbuch zu der bei ECM Records erschienenen Wiedergabe der Tonspur der Histoire(s) liest, ersteht förmlich vor dem geistigen Auge dieses ewig unrasierte Gesicht im Halbdunkel (möglicherweise über den Schreib- oder Schneidetisch gebeugt), dieses ganz spezielle Raunen der Stimme, möglicherweise ein gelassener Zug an einer Zigarre. Die Histoire(s) sind das Werk eines Einzelnen für Einzelne, könnte man sagen. Bei allem möglichen Mangel an Respekt täte also eine Form von individueller Vorbereitung ganz gut - erst recht, wenn einen die Viennale im Stadtkino dazu vergattert, die acht Teile der zwischen 1988 und 1998 entstandenen Arbeit innerhalb eines Tages (oder maximal drei Tagen) zu absolvieren. Das hat den Vorteil einer gewissen Ausschließlichkeit der Zuwendung vonseiten des Publikums. Andererseits: Würden Sie jemandem zumuten, 500 Seiten Heiner Müller in sechs Stunden zu lesen? Grafe im Katalog . . . Eben. Vorbereitung also. Wir empfehlen dafür folgendes stufenweises Aufbauprogramm: Das Basislager ist gewissermaßen einer der besten Texte, die in letzter Zeit über Godard geschrieben wurden: Aus Frieda Grafes Essay, der in Viennale-Katalog erstmals veröffentlicht wurde, spricht persönliche Erfahrung mit den Entwicklungen der einstigen Nouvelle Vague - und das in einer Klarheit der Sprache und des Denkens, die das Komplexe an Godards Montagen und seiner Beziehung zu Historikern wie Fernand Braudel nie unterschlägt. Zweite Stufe: die oben genannte CD-Edition der Histoire(s) . Eine bessere Kenntnis des Texts und des Tons machen gewissermaßen den Blick erst richtig frei für die Laufbildfolgen: Erst dann erahnt man halbwegs, wie präzise Godard einerseits Kommentare über Videoeinspielungen konkretisiert und andererseits Verdoppelung von Bild und Ton vermeidet. Dann schließlich die Gipfelbesteigung. Hier oberste Empfehlung (für die Ein-Tages-Route): Kräfte gut einteilen, nicht mit vollem Schwung alles "verstehen" wollen, weil Godard ja auch unentwegt selbst thematisiert, wie schwer es für ihn ist, das "Wunder" Kino zu fassen bzw. seine Geschichte (sowohl die von Godard und die des Kinos als auch die ihrer beider Beziehung) in sprachlich entsprechender Weise zu erzählen. Permanent kommt sich der Erinnernde selbst in die Quere oder Aktualitäten wie die Jugoslawien-Krise lassen ihn stocken. Klar scheint nur eines: dass dies auch eine Liebesgeschichte ist. Ihr letzter Satz: "wenn ein Mensch/wenn ein Mensch das Paradies im Traum durchquerte/und eine Blume erhielte als Beweis für seinen Aufenthalt/und er beim Erwachen diese Blume in seinen Händen hielte/was würde er sagen/ich war/dieser Mensch". (DER STANDARD, Print-Ausgabe, Beilage 5. 10. 2000)