Wenige nur bekamen vor zwei Jahren mit, dass Santiago Alvarez, einer der Giganten des Dokumentarfilms, im Alter von 79 Jahren verstarb. Die Viennale erweist ihm nun ihre Reverenz: Zu sehen sind seine letzten, auf Video entstandenen, posthum von Ismael Perdomo vollendeten Arbeiten - La isla de la musica und Par bailar... la Habana! (beide 1997) -, vier kurze Klassiker aus den Jahren 1965-68 sowie Travis Wilkersons experimentelle Dokumentation Accelerated Development: In the Idiom of Santiago Alvarez (2000). Seinen ersten Film inszenierte der 1919 geborene Alvarez erst mit 40 Jahren: eine Wochenschau für das ICAIC, gegründet von ihm und anderen kommenden Meistern wie Tomás Gutiérrez Alea, Julio García Espinosa, Manuel Octavio Gómez, und José Massip im März 1959 aufgrund des ersten Kulturerlasses der neuen Regierung. Vor der Revolution hatte Alvarez - Student der Psychologie, Anglistik, Medizin, Philosophie und Literatur - für das Radio gearbeitet und sich in einem oppositionellen Filmclub engagiert. Für ihn war die Revolution Verheißung wie Verpflichtung: wenn es im Titel seines magnum opus De America soy hijo ... y a ella de debo / Ich bin ein Sohn Amerikas ... und ihm bin ich verpflichtet (1972) heißt, dann bezieht sich das konkret auf Fidel, implizit aber auch auf ihn selbst. Film hatte für ihn stets mehr mit Journalismus zu tun: mit Intervention wie Agitation, der Verdichtung von Leben in Meinung in Überzeugung. Seine Werke gestaltete er als Collagen wie Pamphlete, meist ohne Text, nur Bilder, dazu Musik, gelegentlich eine Texttafel. Now (1965) ist Alvarez in nuce: Bilder vom alltäglichen Rassismus in den USA, montiert zur Musik von Blacklist-Opfer Lena Hornes gleichnamigen Lied - der Titel kommt als animiert-stilisiertes Maschinenpistolen-Graffiti. Die wüste Satire L.B.J. (1968) wiederum: Verschwörungstheorie für Fortgeschrittene. Oder sein unbehauen-wuchtiger Nekrolog Hasta la victoria siempre (1967) - entstanden innerhalb von 48 Stunden nach Che Guevaras Tod: All diese Arbeiten demonstrieren, wie nuanciert-variabel Alvarez seine Methode zu verschiedensten Gelegenheiten anwandte. Diese Art von Kino macht heute niemand mehr: Vielleicht haben uns die Musikvideos und die Werbung allen Saft dafür genommen . . . (DER STANDARD, Print-Ausgabe, Beilage 12. 10. 2000)