Literatur
Die Stimme des weiblichen Algerien
Friedenspreis des deutschen Buchhandels für Assia Djebar
Mit einer Zeremonie in der Frankfurter Paulskirche am Sonntag wird die 64-jährige Assia Djebar für ihre "Zeichen der Hoffnung
für ein demokratisches Algerien" und für ihren "wichtigen Beitrag zu einem neuen Selbstbewusstsein der arabischen Frau"
ausgezeichnet.
Djebar selbst erinnert sich noch gut an jenen Herbstmorgen, der ihr Leben aus der traditionellen Bahn warf. Sie ging damals
als "kleines arabisches Mädchen zum ersten Mal an der Hand des Vaters in die Schule", die Institution der französischen
Kolonialherren. Ein Schritt, der sie für ewig in die Widersprüchlichkeit der Welt des Vaters - eines Lehrers an der
französischen Schule - und jener der Mutter - einer traditionell gläubigen Frau - führen sollte.
Zu der einen Welt hat Assia Djebar, die als erste Algerierin die Pariser Elitehochschule
Ecole Normale Supérieure
betrat, nie
ganz gehört. Die andere ließ die vom Unabhängigkeitskampf ihres Landes (1954 bis 1962) geprägte Frau nie ganz los. Beide
beeinflussten ihr Schreiben. Sich bis heute der Sprache der Kolonie bedienend, vermittelt Djebar in ihren oft mosaikartig
fragmentarischen Romanen so die Vielschichtigkeit der Gesellschaft, aus der sie stammt.
Dabei bedient sie sich ebenso des reichhaltigen Fundus oraler Literatur der Araber und Berber wie des Wissens um westliche
Geschichte und Philosophie. Immer wieder blendet die Autorin, die heute an der Louisiana State University lehrt, zurück in die
Zeiten der 130-jährigen Kolonie. Neben den Ergebnissen ihrer Recherchen in den Archiven der einstigen Herren Nordafrikas
verschafft sie erstmals den Erzählungen der Frauen Algeriens ein breites Publikum.
Viele dieser später in Werken wie
Weit ist mein Gefängnis
verwendeten Erinnerungen hat Djebar bei Interviews mit Frauen
ihrer Heimatregion Cherchell gesammelt. "Jetzt bin ich an der Reihe zu sprechen. Das Gesagte zu übermitteln und dann
niederzuschreiben" - Autobiografisches wird zum Kollektiven und umgekehrt.
Als Algerien Anfang der Neunzigerjahre begann, an den Rand des Selbstmordes zu taumeln, war es einmal mehr die Stimme
Djebars, die zu Einhalt mahnte.
Weißes Algerien
(1995) heißt das Buch, in dem sie - im französischen Exil aus Angst vor der
Barbarei - das Andenken an ihre "teuren Verstorbenen" heraufbeschwört. Ein Buch voller Erinnerungen an hoffnungsvolle Tage
nach der Befreiung von Frankreich. An Szenen mit Freunden, die den Strudel fanatischer Gewalt nicht überlebten. In diesem
Buch wählte Assia Djebar auch einen Satz, den 1956 Albert Camus gegen den anderen blutigen Algerienkrieg prägte: "Wenn
ich die Macht hätte, der Einsamkeit und der Furcht von jedem von euch eine Stimme zu geben, dann wäre es diese Stimme,
mit der ich mich an euch richten würde."
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21./22. 10. 2000)