Lord Ralf Dahrendorf gilt seit Jahrzehnten als eine Art Inkarnation der Europäischen Idee: Als Deutscher, der im House of Lords sitzt. Zugleich ist der renommierte Soziologe für seine Skepsis gegenüber den überschwänglichen Ideen einer politischen Einigung des Kontinents bekannt. Michael Fleischhacker sprach mit dem ehemaligen EU-Kommissar über geistige Osterweiterung und die "Finalität" Europas.STANDARD : Lord Dahrendorf, in Ihrem jüngsten Buch beschreiben Sie ein Projekt, den Hannah-Ahrendt-Preis, mit dem innovative Universitäten in Ostmitteleuropa unterstützt werden sollen. Sie sprechen von "venture social capitalists", also "Wagnis-Sozialkapitalisten". Aus westlicher Sicht könnte man auch sagen, es handle sich um einen Preis für "geistige Osterweiterung". Gibt es für die mehr Chancen als für die politisch-ökonomische? Lord Ralf Dahrendorf : Ich würde das nicht ohne weiteres bejahen. Denn auffällig bei der Suche nach Wagnis-Sozialkapitalisten ist, dass es die nur am Rande der Institutionen in den osteuropäischen Ländern gibt, nicht in ihrem Zentrum. Darum ist der Preis auch immer an ungewöhnliche Personen rings um Institutionen gegangen - an solche, die von den Universitäten und Akademien gar nicht so gern gesehen wurden. STANDARD : Heißt das, dass die Institutionen noch immer vom ancien regime beherrscht werden? Dahrendorf : Ancien regime würde bedeuten, dass sie von Nomenklatura-Kommunisten beherrscht werden, das wäre falsch. Sie werden beherrscht von Leuten, die im Grunde zurück aus der kommunistischen Kontrolle zurück wollen in eine idealisierte alte Welt, eine Art Elfenbeinturmwelt. Sie haben Angst, dass, wenn sie sich aus ihrem Turm herauswagen, sie rasch wieder kontrolliert werden würden durch Regierungen. Und diese Angst ist nicht hilfreich für neue Ideen. STANDARD : Es existiert ein eine Art Henne-Ei-Problem: Viele meinen, für die Osterweiterung der EU sei es zu früh, weil die Elitenbildung in den Beitrittsländern zu wenig weit fortgeschritten sei. Andere meinen, diese Elitenbildung leide darunter, dass es noch nicht zur Erweiterung gekommen sei. Dahrendorf : Oh, da bin ich der Meinung, dass die politische - beachten Sie bitte, ich sagte die politische, nicht de politisch-ökonomische - Osterweiterung zuerst kommen muss. Man muss sagen: Hört zu, wir alle gehören in den selben Klub. Aber wir alle haben noch manches zu tun, und das wird sich im Klub leichter erreichen lassen als draußen. STANDARD : Offensivere Staaten sind der Meinung, die EU müsse sich Ende 2002 für aufnahmefähig erklären. Defensive sprechen von 2005 . . . Dahrendorf : Das ist alles viel zu spät. Zugleich halte ich 2005, was die jetzigen Mitglieder betrifft, für früh. Ich bin nämlich der Meinung, dass fast alle Hindernisse der Erweiterung bei den jetzigen Mitgliedern liegen und nicht bei den neuen. Es werden immer neue Vorwände geschaffen, wie ich mal polemisch sagen will. STANDARD : Welche? Dahrendorf : Das ganze Thema Nizza ist meiner Meinung nach letzten Endes ein Vorwand. Diese merkwürdige Vorstellung, man mache seine Institutionen bereit, um mit einer größeren Gemeinschaft fertig zu werden, halte ich für einen schlechten Witz. STANDARD : Auch die Institutionenreform müsste "im Klub" stattfinden? Dahrendorf : Jawohl, im Klub, dasselbe gilt auch für bestimmte Politiken, die Agrarpolitik zum Beispiel. Meine große Sorge ist, dass wenn die jetzigen Mitglieder noch länger die Kandidaten hinhalten, in den Kandidatenländern die Abneigung gegen die Union so steigen kann, dass zum Beispiel in Polen, wo es eine Volksabstimmung geben wird, bei der keineswegs sicher ist, wie sie ausgeht. STANDARD : Es gibt ein altes Strategem in der Union: Deutschland und Frankreich sind für eine Vertiefung, und daher ist Großbritannien für die Erweiterung - weil sie die Vertiefung verhindert. Dahrendorf : Das war vielleicht irgendwann einmal zutreffend. Aber heute sind sich doch alle darüber im klaren, dass die Osterweiterung die eigentliche Vertiefung der Gemeinschaft ist, weil sie eine Entscheidung ist, Europa in einer gewissen Weise zu definieren. Die alte Gegenüberstellung von Vertiefung und Erweiterung ist auch ein Vorwand, sie ist heute nicht mehr real. STANDARD : In Ostmitteleuropa sieht man es so: Mit der Erweiterung wird der Zweite Weltkrieg beendet. Dahrendorf : Für die kontinentaleuropäischen Beitrittsländer ist das die reine Wahrheit. Und ich hoffe sehr, dass die Gemeinschaft diese Wahrheit auch einsieht und danach handelt. STANDARD : Warum will man denn Ihrer Meinung nach die Erweiterung verhindern? Dahrendorf : Zunächst einmal gibt es ganz starke direkt- materielle Interessen derer, die glauben, dass sie etwas verlieren: Die Landwirte und die Kohäsionsländer, die ja enorme Hilfe bei ihrer Entwicklung bekommen haben - glücklicherweise. Das ist das eine. Das andere sind eher abstrakte Ängste, wobei sicher die Frage der Migration von konkurrierenden Arbeitskräften eine Rolle spielt. STANDARD : Sie meinen, die Erweiterung sei die wirkliche Vertiefung der Union. Zugleich gibt es derzeit eine Diskussion, in der es um die "Finalität" Europas geht, und in der über das Vehikel einer "Verfassung" in Form der Grundrechtscharta eine europäische Staatlichkeit angedacht wird. Wenn ich Sie in der Vergangenheit richtig verstanden habe, halten Sie davon sehr wenig. Dahrendorf : Stimmt, und ich glaube auch nicht, dass das eine große Rolle spielt. Ich meine, bei der Charta geht es ja nur um bestimmte Regelungen in Bezug auf die Gemeinschaftsinstitutionen und nichts anderes. Das ersetzt ja nicht die Menschenrechtskonvention - im übrigen bezweifle ich, dass sie zum Teil der Verträge und also des geltenden Rechts werden wird in absehbarer Zeit. Tony Blair wird das ablehnen und es wird andere geben, die sehr froh sind, dass er das tut. Das Problem liegt bei einem Punkt, der in Nizza zur Sprache kommt: In welcher Form man in einer Gemeinschaft von 25 die gesteigerte Zusammenarbeit von Gruppen möglich macht. Ich habe das nie als Pioniergruppe im Chirac´schen Sinn - Deutschland und Frankreich - gesehen, sondern ich bin immer davon ausgegangen, dass es bei 25 natürlich Bereiche gibt an denen die Ostseeanrainer Interessen haben und die Mittelmeeranrainer nicht. STANDARD : Interessant ist, dass die Verfechter der Grundrechtscharta und der europäischen Staatlichkeit auch die Verfechter der verstärkten Zusammenarbeit sind. Ist das nicht ein Widerspruch? Dahrendorf : Unterschiedliche Geschwindigkeit und formales gemeinsames Regelwerk widersprechen sich meiner Meinung nach nicht. Man muss nur sehen, dass das Regelwerk dann immer formaler wird. STANDARD : Aber mit der Vorstellung einer Staatlichkeit verbindet sich der Wunsch nach "Demokratisierung" im Sinn einer parlamentarischen Demokratie. Und die stößt, wie Sie selbst mehrmals betont haben, mit dem Nationalstaat an ihre Grenzen. Dahrendorf : Ich bin nicht der Meinung, dass es eine intensivierte Staatlichkeit der Europäischen Union in absehbarer Zeit geben wird oder geben soll. Ich sehe darin keinen Sinn, gerade aus den Demokratie-Gründen. Denn was immer nach Europa geht, wird in gewisser Weise demokratischer Kontrolle entzogen. Was wir in dem Bereich tun müssen, ist, uns andere Kontrollverfahren einfallen zu lassen. Das ist möglich, aber schwierig - zum Beispiel durch die Stärkung des Europäischen Rechnungshofes. Oder aber durch die Inanspruchnahme nationaler parlamentarischer Einrichtungen für die Kontrolle europäischer Entscheidungen. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die noch nicht zur Demokratie führen, die aber eine gesteigerte Kontrolle der europäischen Entscheidungen erlauben. STANDARD : Das heißt, die historische Perspektive Europas ist Ihrer Meinung nach nicht seine Staatlichkeit, sondern seine Erweiterung? Dahrendorf : Das ist meine Meinung, ja. Und darum halte ich es für einen besonders merkwürdigen Zeitpunkt für das, was ich den Eurovisions- Contest von Fischer, Chirac und inzwischen auch Blair und Prodi nennen würde. STANDARD : Es gibt ja auch andere Vorstellungen von Vertiefung: Etwa das Abgehen vom Einstimmigkeitsprinzip hin zu Mehrheitsentscheidungen, damit noch mehr Dinge vergemeinschaftet werden können. Können Sie hier mit? Dahrendorf : Ich weiß nicht, was die Leute im dabei Sinn haben - wahrscheinlich gar nichts, genau so wie bei den deutsch-französischen Pioniertaten. Es hat noch niemand gesagt, welche Politiken die beiden denn nun gemeinsam machen wollen, das würde mich sehr interessieren, ob die Sozialpolitik oder die Steuerpolitik in den beiden Ländern vereinheitlichen wollen. Was ich in Europa sehe ist, dass alles, was bisher supranational gemacht wurde, doch am gemeinsamen Markt hing, beziehungsweise am von Delors umdefinierten einheitlichen Markt. Alles, was darüber hinaus gegangen ist, ist eigentlich intergouvernemental geblieben - und wird es auch bleiben. Das gilt vielleicht sogar für die Währungsunion - das wird nach der Erweiterung, wenn nicht alle Beitrittsländer dazugehören, noch deutlicher werden. Es gilt für die Außen- und Sicherheitspolitik, und für den größten Teil der Justizpolitik. STANDARD : Von einer Eingliederung des "Mister GASP" Javier Solana in die Kommission, wie sie Präsident Prodi fordert, halten Sie nichts? Dahrendorf : Ich sehe nicht warum, weil ich nicht der Meinung bin, dass Außen- und Sicherheitspoltitik nach der Methode des gemeinsamen Marktes gemacht werden kann, wo die Kommission einen Vorschlag macht und der Rat beschließt. Hier geht es eindeutig darum, Bereiche zu finden, in denen sich die nationalen Interessen hinlänglich überschneiden, um zu gemeinsamen Aktionen zu kommen - was übrigens in der Regel nicht der Fall ist. STANDARD : Es gibt hier auch ein moralisches Argument: Europa darf nicht nur des schnöden Mammons wegen existieren, es muss die politische Union folgen. Dahrendorf : Man kann nach meiner Meinung Institutionen immer nur sehr schwer ihrem ursprünglichen Zweck entfremden. Ich habe das am deutlichsten bei der Westeuropäischen Union, bei der oft - erfolglos - versucht wurde, sie aus ihrer verteidigungspolitischen Funktion herauszulösen. Es ist noch nicht einmal gelungen, die aus dem Zweck der Beobachtung der deutschen Wiederbewaffnung herauszulösen. Die europäische Union wird also eine Wirtschaftsgemeinschaft bleiben, was nichts daran ändert, dass die Gewohnheit der Zusammenarbeit, vermittelt durch die Institutionen der Europäischen Union, sich auf andere Bereiche ausgeweitet hat und ausweiten wird. STANDARD : Schengen ist auch so ein Beispiel . . . Dahrendorf : . . . ja, eines, bei dem Großbritannien nicht dabei ist. STANDARD : Schengen zu vergemeinschaften und zu integrieren, das würden Sie nicht begrüßen? Dahrendorf : Nein, und als ich bei Polen und den anderen in den Texten gelesen und von den Ministern gehört habe, dass Brüssel gesagt hat, Schengen sei nicht verhandelbar, da habe ich mir gedacht, das kann nicht stimmen, der Punkt wird kommen, an dem im Gegenteil Brüssel sagt: "Schengen, da bleibt erst mal noch draußen". Und ich denke, wir sind nahe dran an dem Punkt. Ich könnte mir durchaus denken, dass das eine der Bedingungen sein wird, um die Verhandlungen zu einem relativ frühen Abschluss zu bringen. Europa ist ein sehr kompliziertes Gebilde, und wer versucht, diese Komplikationen zu leugnen oder wegzuwischen, der hat am Ende gar nichts mehr erreicht. Was Europa tun muss ist, in einigen Dingen an dem festzuhalten, was erreicht ist - und das ist wirtschaftlich - und im übrigen ein Forum für vielfältige Formen der Kooperation zu bilden, je realer, desto besser. STANDARD : Man hatte während der letzten Jahre den Eindruck, dass sich in Europa der von Ihrem Nachfolger an der London School of Economics, Anthony Giddens, inspirierte "Schröder-Blair-Kurs" durchsetzen würde. Es werden aber immer stärkere Zweifel laut, ob das wirklich ein politisches Konzept ist oder nicht mehr eine Lebensauffassung: Der "third way" als "way of life". Dahrendorf : Bei mir werden diese Zweifel nicht erst jetzt wach. Ich will zwei Dinge dazu sagen: Leute, Ihr habt die Welt nicht analysiert. Was jetzt passiert mit den sozialdemokratischen Parteien, die vor ein paar Jahren Wahlen gewonnen haben, ist eine reine Episode. Das sind prekäre Koalitionen, die unter bestimmten Umständen zustande gekommen sind und die nach meiner Meinung eine Episode bleiben. Die eigentliche Wählertendenz geht nach rechts der Mitte und nicht nach links der Mitte. STANDARD : Die Sozialdemokraten wurden ja nicht gewählt, weil die Wähler nach links rückten, sondern weil die Sozialdemokraten nach rechts rückten. Dahrendorf : Es gibt tatsächlich sozialdemokratische Parteien, die in entscheidenden Dingen rechts der Mitte stehen, das hängt sehr vom Kontext ab, in dem sie operieren. Wenn man sich in drei Jahren in Europa umguckt, wird das eine kleine Minderheit sein. Es interessiert mich jetzt schon, dass Herr Blair manchmal sagt, sein bester Freund in Europa ist Herr Aznar. Das andere ist: Das ökonomische Problem ist gelöst. Man muss nicht mehr eine bestimmte Regierung wählen, um eine bestimmte Wirtschaftspolitik zu vertreten, das ist erledigt. Stattdessen kann man sich jetzt konzentrieren auf Lebensstil- und Kulturprobleme. Das war von Anfang an ein massiver Fehler: Wenn man sich ansieht, was die globale Klasse mit sich gebracht hat an neuen Problemen der Ungleichheit, dann kann man sich nur wundern, dass ihre Sprecher wie Blair so unbefangen weiter die selbe Sprache sprechen. Und hinter allem steht für mich die Kritik: Wo bleibt die Freiheit? Das ist ja faszinierend an Anthony Giddens: Was immer er schreibt, Freiheit kommt nicht vor. STANDARD : In den ostmitteleuropäischen Ländern hat Freiheit noch einen etwas frischeren Klang. Dahrendorf : Das ist wahr. Und es wird sehr stark verbunden mit nationaler Demokratie. Da liegt für sie ein Kernproblem der diversen Eurovisions-Ideen im Westen, dass man ihnen sagt: Schön und gut, dass ihr jetzt Eure Freihit wiedergewonnen habt durch nationale Demokratien, aber gebt sie mal auf, denn die taugt doch nix mehr. Das ist ein ernstes Thema in den ost- west-europäischen Beziehungen. STANDARD : Wenn man sich den Eurovisions-Contest ansieht, fällt etwas auf: Europa war immer ein konservatives Projekt im deutschsprachigen Raum. Und erst als - im Nachhang der Waldheim-Affäre in Österreich, welche die deutschnationale FPÖ auf einen Österreich-Patriotismus einschwenken ließ, und mit der deutschen Wiedervereinigung - nationale Interessen formuliert wurden, nahm sich die Linke Europas an - als Fluchtort gewissermaßen vor der ungeliebten Nation. Dahrendorf : Das ist ein interessantes Thema. Wenn man sich die deutsche Situation ansieht, dann war Europa eindeutig ein christdemokratisches, ein "römisches" Projekt. Die Sozialdemokraten waren ursprünglich aus nationalen Gründen dagegen, und man könnte sogar argumentieren, dass selbst noch in der Brandt-Regierung Europa eigentlich zweitrangig war hinter einer Ostpolitik, die ja doch eine stark nationale Komponente hatte. Im Grunde ist erst jetzt die Linke auf die Idee gekommen, dass Europa für sie gut ist. In Großbritannien ist das zeitlich ganz ähnlich zu sehen. In der Thatcher-Zeit ist Labour auf die Idee gekommen, Europa könnte vielleicht die Sozialpolitik in die Wege leiten, für die man in Großbritannien keine Mehrheiten kriegt. So könnte man für eine Reihe von Ländern ähnliche Geschichten erzählen über die allmähliche Konversion der Linken zu Europa, die heute sehr weit geht. STANDARD : Glauben Sie, dass sich das noch einmal drehen wird, wenn es wieder mehrheitlich Mitte-Rechts-Regierungen in Europa gibt? Dahrendorf : Ich glaube schon, weil wir ja sehen, wie dünn im Grunde das Europäertum der Bevölkerung ist. Es schwankt. Ich nehme ja Meinungsumfragen nicht so sonderlich ernst. Aber was ich ernst nehme, sind die Schwankungen in den Meinungsumfragen, die nach meiner Meinung nach etwas widerspiegeln, das wir auch sonst sehen: Die Leute wählen jemanden, und am Tage darauf verdammen sie ihn, und keiner denkt daran, ihm vier Jahre eine Chance zu geben. STANDARD : Das Links-Rechts- Denken scheint überhaupt einem Oben-Unten-Denken gewichen zu sein. Dahrendorf : Sehr stark, ja. Und dieses Oben-Unten-Bewusstsein kann dazu führen, dass die Europa-Zustimmung am Ende noch stärker wackelt als sie es im Augenblick ohnehin schon tut. (DER STANDARD; Print-Ausgabe, 24. 10. 2000)