Mit Proust ist Godard nicht nur entfernt verwandt. Seine Art, in Histoire(s) du Cinéma mit Erinnerung umzugehn, lässt ihr wie einer Vertrauten Freiräume und Absprungmöglichkeiten. Keine Umklammerung, Sperren, Grübeleien. Sie lohnt es auf ihre Weise. Aufleuchtende Zwischentitel in seiner Filmgeschichte: La solitude de l'histoire. Les reves. La naissance du Kitsch. Le temps trouvé . Dazwischen Farben, rasche Bilder - und doch, als hätte man viel Ruhe, sie zu betrachten, als stünde man irgendwo auf der Welt und ganz ungestört vor einem Veronese, Braque.

Godards Ökonomie ist verschwenderisch: Er nimmt die Möglichkeit wahr, Gedanken untergehen und in immer neuen Bildern wieder auftauchen zu lassen. Das ermöglicht den eigenen Erinnerungen, es den seinigen gleich zu tun, wieder zu kommen und wieder zu gehen.

"Erinnerung begreift sich nicht zu Ende", habe ich vor langer Zeit notiert. Damals dachte ich an das frühe Beerensuchen auf dem Land - und noch lange nicht an die l'histoire du cinéma um Louis Malle, Carol Reed, Terence Davies oder die Szene aus Pasolinis Matthäuspassion , die bei Godard als Leitmotiv aufflackert. Und ich dachte noch nicht an die Frage, in welchen Filmen man sich jene Art von Tod holen könnte, von dem in den Märchen steht: "Einen besseren findest du überall." Er ist wie der Schlaf nur dort auffindbar, wo er einen überfällt. Deshalb noch zu einigen, die ihn schon gefunden haben, ihren Stimmen, Präsenzen, Vorfreuden. Eine von ihnen ging mit mir zur Volksschule. Ihre Großmutter holte sie ab, ein Stück Weg hatten wir gemeinsam. Als ihre Großmutter uns zu erklären versuchte, weshalb die Kleine unlängst nicht auf den Spielplatz gekommen sei, wandte die sich mit einem Ruck zu ihr um und sagte ziemlich scharf: "Mummi, du lügst." Während ich das aufschreibe, erinnere ich mich an Hut und Halstuch dieser Großmutter, an den stillen dritten Bezirk. Und an die Stimme der Kleinen, die wie ein Peitschenknall klang. Mit zwanzig starb sie. Und zugleich das Kind, das sie zur Welt gebracht hatte. Ein anderes Erinnerungsbild: Während einer Amerikareise hatte ich wieder einmal zu viel Zeit. Und was heute das Kino für mich bedeutet, die Möglichkeit, Tod oder Leben darin zu finden und vieles dazwischen, bedeuteten mir damals leere Schulhäuser. Hiesige, englische, deutsche kannte ich genau, in Linz, Newcastle upon Tyne oder Hannover. Aber wo fing man in New York an? Die Schule stand in der Bronx, es war wie im Dritten Mann "ungefähr two thirty", und die Klassen waren schon leer. Tatsächlich roch es in manchen Klassenzimmern nach Kreide, der Geruch musste aus Dover kommen, und wie auf dortigen Klippen sah ich in einem leeren Klassenzimmer einen Jungen mit einem Zeichenblatt vor sich. "Was malst du?", fragte ich, und er: "Flowers, deers, United States." Und auf die Frage nach seinem Namen: "John Roberts." In diesem Augenblick begriff ich New York. Erinnerung, die sich nicht zu Ende begreift: Aber was begreift sich zu Ende, was begreift sich selbst und bleibt doch so weit von sich weg, dass es sich erträgt? Immerhin kann man danach fragen, nach dem Kino vor allem und immer wieder. Aber Erinnerung? Von Origines bis Pascal, von Proust bis Billy Wilder - es entgeht kaum einer der Sucht, sie zu ergründen. Ihre Orte nur kann man immer wieder neu bestimmen. Kein Lexikon und keine alte Schulfibel reicht aus, sie ohne Zwang zu fassen und wie den Luftgeist, der sie ist, fliegen zu lassen. Wer ist dem gewachsen und in welchem Moment? Leere Zwischenzeiten kommen zu Hilfe: Pausen zwischen Filmen, das Warten auf das nächste Jahr, Herbst und Viennale. Nichts wird von Zwischenzeiten erwartet. Vielleicht deshalb retten sie, was möglich ist: Fetzen im Herbstwind, Filme, die Erinnerung. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25./26. 10. 2000)