Wenn es um die wissenschaftliche Durchleuchtung und Analyse der neuen, gesellschaftlichen Entwicklungen im Internet geht, führt kein Weg an Sherry Turkle vorbei. Die klinische Psychologin und Professorin für Wissenschaftssoziologie am weltberühmten Massachusetts Institute of Technology, kurz MIT, in Boston begann bereits vor mehr als 20 Jahren, sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Computer auseinander zu setzen. Heute gilt die inzwischen 52-jährige New Yorkerin als die "Soziologin des Internets". "Ich bin viele", lautet eine ihrer Kernthesen, die ihr jahrelanges Studium von Chatrooms und MUDs (Multiuser Dungeon), den virtuellen Treffpunkten im Netz der Netze, ergaben: Der Mensch, wie ihn die reale Gesellschaft darstellt, mit einer klar erkennbaren Persönlichkeit, einem Wesen und einem eindeutig definierbaren Charakter, entspricht nach Turkles Ansicht gar nicht unserer eigentlichen Natur. In ihrem Buch "Leben im Netz - Identitäten in Zeiten des Internets" (Originaltitel: Life on the Screen - Identity in the Age of the Internet) beschreibt die Wissenschafterin das Leben im Netz, was die User in der virtuellen Welt treiben, und vor allem, wie der tagtägliche Umgang mit dem Internet ihre Art zu denken beeinflusst und zu guter Letzt auch ihr Gefühl für ihre eigene Identität verändert. "RL ist nur eines von vielen Fenstern, und meistens nicht gerade das Beste", zitiert Turkle in ihrer Studie einen College-Studenten, der seinem Dasein im Cyberspace, der virtuellen Realität (VR) inzwischen den gleichen Stellenwert gegeben hat wie dem RL - die Abkürzung steht für "Real Life", also das "echte" Leben. Der Internetanwender, so Turkle, vagabundiert durch eine Vielzahl verschiedener Identitäten, kann mit multiplen Persönlichkeiten experimentieren und sich so ein eigenes Selbst schaffen. Auch diese "virtuellen" Wesen suchen aber wieder ihren Platz in der Gesellschaft, versuchen, im Internet Stammesgemeinschaften aufzubauen. Communities, Newsgroups und Chatrooms sind deren "Dörfer", die allerdings nicht mehr an geographische Gegebenheiten gebunden sind. Die heimische Verwurzelung, so ist die Professorin überzeugt, hat sich mit dem Internet deutlich abgeschwächt. Obwohl das Buch bereits vor fünf Jahren erschienen ist, hat sich an den Kernaussagen nicht viel geändert - außer, dass heute vielleicht den kommerziellen Aspekten des Internets eine wesentlich stärkere Bedeutung zukommt als noch Mitte der Neunzigerjahre, als der E-Commerce erst zaghaft seine ersten Knospen zeigte. Sherry Turkles jüngstes Projekt widmet sich den Kindern im Technologie-Zeitalter - und vor allem deren Haustieren. Und damit meint sie nicht Hund und Katz: Per Internet sammelt die Forscherin derzeit Geschichten rund um Furby, Tamagotchi, GigaPet und wie sie alle heißen, wobei sowohl wahre Geschichten wie auch erfundene Storys gefragt sind. Die Erfahrungen, die Kinder, aber auch deren Eltern, mit virtuellen Haustieren gemacht haben, sollen im "Virtual Pet Project" des MIT der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Turkle will in ihrer Umfrage zwar von allen Einsendern und Teilnehmern deren wahre Identität wissen, in der Publikation werden die Namen dann aber wieder anonymisiert. Dies zeigt ganz nebenbei auf, wie schwierig es geworden ist, die multiplen Netz-Personen und wissenschaftliche Beweisführung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Sherry Turkle wird neben dem Internet-Guru und Ökonomen Hal Varian eine der Keynote-Speeches am Mobilkom Austria-Symposium halten, das am 8. und 9. November in den Redoutensälen der Wiener Hofburg stattfindet. (Uwe Fischer-Wickenburg) (D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, 25./26.10. 2000)