Wels - Ken Vandermark - der innovative Widerpart zu Retro-Tompeter Wynton Marsalis? Etwas verfrüht, diese Behauptung. Unbestritten ist jedoch, dass die Strahlkraft und die ungestümen freien Improvisationsenergien des Chicagoer Saxophonisten gegenwärtig die Zuhörerschaft wachrütteln. Eine Folge: Dem 36-Jährigen ist 1999 das 265.000 Dollar schwere Stipendium der McArthur Foundation zuerkannt worden - die höchstdotierte Auszeichnung, die dieser Planet für Jazzer bereithält. Das hat womöglich auch mit Chicago zu tun, das seit Mitte der 90er-Jahre dank der Post-Rock-Szene sowie der jungen Improvisations-Szene in vieler Munde ist. "Es ist schwer zu beschreiben, weshalb Chicago sich so entwickelt hat: Es gibt viele Lokale und Gelegenheiten zum Spielen", sagt Vandermark. "Chicago ist auch nicht so teuer wie New York oder San Francisco. Das verringert den Wettbewerb. Andererseits sind die Musiker auch bereit, Opfer zu bringen und manchmal die ganze Nacht für vielleicht 20 Dollar zu spielen. Die Leute unterstützen einander. Außerdem gibt es viel stilistische Offenheit." Vandermark ist natürlich durch das Stipendium in einer "etwas" besseren Position: "Ich weiß nicht, was das mit sich bringen wird, aber es ist klar, dass mein Name nun präsenter ist. Am offensichtlichsten ist die Änderung, was die finanzielle Situation anbelangt: Durch das Geld werden Projekte möglich, die zu realisieren sonst undenkbar gewesen wäre, etwa das Peter-Brötzmann-Chicago-Tentett auf Tour zu bringen." Natürlich kommt auch Vandermark an Gedanken über den Zeitgeist nicht vorbei. Es gibt ja die Meinung, dass die 90er-Jahre nicht nur das konservative Bebop-Revival um Wynton Marsalis prolongiert, sondern auch eine Renaissance des Free Jazz gebracht haben. "Viele Dinge haben zur Abwendung vom Konservativismus der 80er-Jahre beigetragen. Die politische Situation jener Zeit - Ronald Reagan, Margaret Thatcher - fand ihre Parallele auch im Neokonservativismus der Jazzszene. Er war eine Reaktion auf den Radikalismus der 60er- und 70er-Jahre." Nun scheine es fast, als ob das Pendel "wieder in die andere Richtung schwingt, kulturell und politisch. Das Lincoln Center Jazz Orchestra und Marsalis mögen heute die sichtbarsten Repräsentanten von Jazz und improvisierter Musik sein", sagt Vandermark, "aber der Höhepunkt ihrer Musik lag in den 80ern und frühen 90ern." Nun gelte es nach Vandermark, ernsthafte Reaktionen gegen diese neokonservative Perspektive zu forcieren. "Die späten 90er und deren Fortsetzung in der nächsten Dekade werden später als Periode gesehen werden, die eine offenere Sichtweise gegenüber Improvisation zurückbrachte." Hoffentlich! (fel/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2. 11. 2000)