Wien - Auf den Ton kommt es an in der Musik! Was klingt wie eine Plattitüde, ist in der Tat der Kern des Credos der französischen Ecole spectrale : Vor rund dreißig Jahren in Paris um die Messiaen-Schüler Gérard Grisey, Michaël Lévinas und Tristan Murail formiert, versucht die Groupe de l'itinéraire alle rhythmischen und harmonischen Gesetzmäßigkeiten einer Komposition aus den Teiltonspektren der Töne abzuleiten. Das mag ein wenig technisch klingen oder gar an musikalische Mathematik erinnern - und tatsächlich sind mathematische Prozesse beim Komponieren der Musique spectrale nicht zuletzt mithilfe des Computers im Spiel. Doch das Resultat der so konzeptionierten Werke ist - im Gegensatz zu manchem durchkonstruierten seriellen Werk - alles andere als knöchern und trocken. Davon konnten sich die zahlreichen Besucher von Wien modern im Konzerthaus überzeugen, das erstmals in Österreich eine Begegnung mit Gérard Griseys Schlüsselwerk Les espaces acoustiques ermöglichte: Beginnend mit einem technisch hoch anspruchsvollen Bratschensolo (virtuos Garth Knox), lässt Grisey sechs Stücke mit zunehmender Besetzung aufeinander folgen, um dadurch zu komplexer werdenden Synthesen der Teiltonreihen des Grundtons "E" zu gelangen. Überdies wird in den orchestralen Teilen des rund eineinhalbstündigen, zwischen 1974 und 1985 entstandenen Werks auch die Klanglichkeit von Blechblasinstrumenten auf den gesamten Orchesterapparat übertragen, der dadurch eine blechlastige Färbung erhält. Irritierende Zuspielungen Ein faszinierendes, vom immer größer werdenden RSO Wien unter Pierre-André Valade sinnlich interpretiertes Stück, das sich im Spannungsfeld zwischen Ton und Geräusch, zwischen Ein- und Ausatmen zur eruptiven Klangwoge verdichtet. Mit einem Ozean und dessen Pendelbewegungen hatte den Spektralismus Griseys schließlich auch Hugues Dufourt im Komponistengespräch verglichen. Dufourts formal bezwingendes Klaviersolo An Schwager Kronos war tags zuvor in der luziden Wiedergabe Florian Müllers zu hören. Ebenso das Ensemblestück L'espace aux ombres , das die klanglichen Wurzeln der Musique spectrale in der Tradition Debussys und Messiaens nur zu deutlich macht. Drei "österreichische" Stücke fügten sich dennoch gut in die französische Klangwelt: Wolfgang Suppans Idyll II ließ durch gläserne Klangstrukturen schimmern; und Alexander Stankovski, Preisträger des Kompositionspreises der Erste Bank, öffnete durch irritierende Zuspielungen neue klangliche Räume I-IV . Am stärksten schloss sich Georg Friedrich Haas der spektralen Klanglichkeit an, wenngleich In vain eher das Rheingold als die Märchenwelt des Pelléas durchschimmern lässt. Ein - vom Klangforum Wien unter Dirigent Sylvain Cambreling - mit viel Feingefühl interpretiertes Stück, das den Obertonreihen ohne mathematische Analysen auf der Spur ist und gerade deshalb so überraschende Klangschleifen dreht. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7. 11. 2000)