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Es war eigentlich das österreichische Schulsystem, das mich zum Judentum zurückgebracht hat. Bevor meine zwei Töchter in Österreich geboren wurden, war ich eine durchaus unreligiöse, politisch eher links orientierte Amerikanerin, die seit vielen Jahren mit einem nichtjüdischen Österreicher zusammenlebte. Es waren auch nicht irgendwelche Ängste vor Neofaschismus oder Rechtspopulismus mit antisemitischen Tönen, die zu einer Auseinandersetzung mit meiner bisherigen Identität geführt haben, sondern einfach die Tatsache, dass Religion in öffentlichen Schulen unterrichtet wird. Davor hatte ich ehrlich gesagt Angst. Nicht vor dem Antisemitismus, sondern vor dem "Anders-sein-Müssen". Angst vor der Notwendigkeit, meinen Kinder klar zu machen, dass sie trotz ihres steirischen Dialekts und ihrer H&M-Klamotten anders sind als ihre Klassenkameraden und dass sie wie vier andere von den 27 Kinder in der Klasse beim katholischen Religionsunterricht einfach aussetzen müssten. Dass Kinder in Schulen nach ihrer Religionszugehörigkeit identifiziert werden, ist mir nicht nur wegen meiner liberalen amerikanischen Erziehung unbehaglich, sondern auch wegen der Kindheitserfahrungen meines Vaters in Danzig, als die Nürnberger Gesetze in Kraft traten. Von einem Tag zum nächsten mussten sich die jüdischen von den anderen Schüler trennen. Noch heute kommen meinem sonst nüchternen Vater Tränen in die Augen, wenn er erzählt wie er als Neunjähriger es empfunden hatte, plötzlich als "schmutziger Jude" aus dem Schulfreundeskreis herausgejagt zu werden. Als ein California Girl erster Generation wurde meine eigene jüdische Identität mehr von der Weltanschauung des engen Familienkreises aus assimilierten deutschen und polnischen Emigranten geprägt als durch Besuche in oberflächlichen amerikanischen Tempeln. Aber in Graz gibt es keine jüdischen Verwandten, und meine Erzählkünste sind zu schwach, um dieses kulturelle Erbe gerecht weiterzugeben. Ich hatte und habe Angst, dass meine Kinder es ablehnen werden, aufzufallen und als jüdisch identifiziert zu sein, wenn wir kaum etwas Jüdisches in unserem Alltagsleben hatten. "I am not Jewish", sagte einst eine meiner Töchter in einem widerspenstigen Moment. "Ich spreche Deutsch!" Als meine damals fünfjährige Janina vom Kindergarten nach Hause kam mit Geschichten vom heiligen Martin, der den Armen half, und mit verschwommenen Erzählungen über Jesus, der "für alle kleinen Kinder gestorben ist", wurde es Zeit, etwas zu unternehmen. Der heilige Martin war angeblich kein übler Typ, aber es wäre gut, dachte ich, wenn ich ein jüdisches Beispiel finden könnte. Also begann unsere Suche nach einem authentischen jüdischen Leben. Kein einfaches Ziel für einen evangelisch getauften Österreicher und für eine in religiösen Sachen absolut unwissende Kalifornierin in einer Stadt mit 120 Juden. Aber mein Mann und ich sind überzeugt, dass jüdische Geschichte, Philosophie, Kultur und auch religiöse Rituale uns helfen können, um über allgemeine Ethik im Alltagsleben nachzudenken und um die Art und Vielfalt menschlicher Beziehungen wahrzunehmen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, Karen Engel)